Kreuzigung und Erlösung im Islam

Christine Schirrmacher [ 1 ]


Einleitung

Das Thema meines Vortrags lautet: Welche Aussagen macht der Koran zur Kreuzigung und zur Erlösung? Beide Fragen könnten ganz kurz mit zwei Thesen beantwortet werden:

These 1: Der Koran lehnt die Kreuzigung Jesu ab.

These 2: Der Mensch braucht keine grundsätzliche Erlösung.



Zur Erläuterung dieser Aussagen müssen drei Quellen befragt werden:


1. Der Koran: Welche Aussagen macht der Koran zu Kreuzigung und Erlösung?

2. Die muslimische Theologie: Wie haben Korankommentatoren diese Koranaussagen ausgelegt?

3. Die Überlieferung und der Volksglaube: Was hat die islamische Überlieferung (oder Tradition) und der Volksglaube dem Korantext und seiner Auslegung hinzugefügt? Die Tradition erlangte in der Zeit nach Muhammads Tod immer größere Bedeutung und beansprucht heute sowohl für Sunniten als auch für Schiiten dieselbe Autorität wie der Koran; diese starke Position der Überlieferung wäre etwa mit der großen Bedeutung der Überlieferung für die Katholische Lehre zu vergleichen. Der Volksglaube, also das, wie der einzelne Muslim den Islam lebt, nimmt meist eine wichtigere Stellung ein als das Wissen über die Aussagen des Korans, geschweige denn, als die Aussagen und Kommentare der islamischen Theologen. Es ist also deshalb kaum möglich, umfassend Aussagen darüber zu machen, welche Vorstellungen alle Muslime von Indonesien über Saudi-Arabien bis zu den Black Muslims in den USA von Kreuzigung und Erlösung haben. Dennoch lassen sich natürlich einige Feststellungen, vor allem aufgrund der Aussagen des Korans machen.


1. Erlösung im Islam

Die muslimische Auffassung von der Kreuzigung wird leichter verständlich, wenn wir uns zunächst mit der Erlösung beschäftigen. In der Bibel ist die Frage der Erlösung untrennbar mit der Lehre von der Erbsünde verbunden (Röm 5,8-10+12-18: ohne Erbsünde keine Erlösung. Erst der Fluch der Erbsünde über alle Menschen und ihr zerstörtes Verhältnis zu Gott machen die Erlösung unbedingt notwendig, damit die Kluft zwischen Gott und Mensch (1Mo 3,15+24) überbrückt werden kann.

Hier wird bereits der erste, grundlegende Lehrunterschied zum Islam offensichtlich: Der Koran kennt die Lehre von der Erbsünde nicht. Wenn man bedenkt, daß Muhammad in seinem Umfeld zwar in Kontakt mit Christen gekommen sein muß und etliche Inhalte der Bibel, vor allem aus dem Alten Testament, in den Koran übernommen hat, so ist nicht verwunderlich, daß einerseits viele Aussagen des Korans mit dem Alten und Neuen Testament übereinstimmen. Andererseits geht man heute davon aus, daß den Christen zu Muhammads Lebzeiten im 7. Jahrhundert n. Chr. keine arabische Bibelübersetzung zur Verfügung stand. Ihr Glaube stützte sich also auf andere, z. B. apokryphe Schriften und mündliche Überlieferungen. Viel häretisches Gedankengut und manche Sonderlehre (etwa, daß Maria die dritte Person der Dreieinigkeit sei) scheinen die Christen, die Muhammad kennenlernte, vertreten zu haben. Grundlegende Aussagen des Christentums wie die Lehre von der Erbsünde fehlen dagegen im Koran, und man kann annehmen, daß gerade angesichts der Tatsache, daß auch der Koran eine Paradiesgeschichte enthält, Muhammad von den Christen seiner Zeit die Lehre von der Erbsünde vielleicht niemals gehört hatte.


1.1. Adam und seine Frau im Paradies

Adam nimmt im Koran eine wichtige Stellung ein und gehört zu den bedeutendsten Propheten; mit Noah, der Familie Ibrâhîms (Abrahams) und 'Imrâns gehört er zu denen, die Allah "vor den Menschen in aller Welt" auserwählt hat (Sure 3,33). Auch im Koran gilt Adam als der Stammvater der Menschheit (4,1). Allah formte Adam aus Lehm und Schlamm (15,26) und gab ihm "Geist ... Gehör ... Gesicht und Verstand (w. Herz)" (32,9). Daß Allah Adam "Geist" schenkte, heißt nach Ansicht muslimischer Koranausleger jedoch nicht, daß er ihm, wie das Alte Testament lehrt, seinen Geist einhauchte, sondern ist lediglich ein Bild für die Tatsache, daß Allah dem Menschen Leben geschenkt hat. Interessant ist ferner die Tatsache, daß der Koran nirgends davon spricht, daß der Mensch als Gottes Ebenbild nur wenig geringer gemacht wurde als Gott (Ps 8,5-7; vgl. Hebr 2,6-8), denn Allah ist einzigartig, unvorstellbar, weit erhaben über seine Geschöpfe und kann niemals und auf keinerlei Weise mit dem Menschen, seinem Geschöpf und Diener, verglichen werden.

Allah kündigt den Engeln an, daß er auf der Erde einen "Nachfolger", den Menschen, einsetzen werde (2,30). Die Engel weisen Allah prophetisch darauf hin, daß der Mensch auf der Erde "Unheil anrichten und Blut vergießen werde" (2,30). Allah möchte daraufhin den Engeln die 'Überlegenheit' Adams demonstrieren:

Im Unterschied zum Alten Testament fordert Allah Adam nicht auf, die von ihm geschaffenen Tiere selbst zu benennen ("... und genau so wie der Mensch sie, die lebenden Wesen, nennen würde, so sollten sie heißen"; 1Mo 2,19). Der Koran berichtet stattdessen, daß Allah Adam die Namen der Tiere lehrte. Dann befragte er die Engel, welche Namen die Tiere nun trügen, die darauf antworten müssen: "Gepriesen seist du! Wir haben kein Wissen außer dem, was du uns (vorher) vermittelt hast. Du bist der, der Bescheid weiß und Weisheit besitzt" (2,32). Adam wird daraufhin von Allah aufgefordert, den Engeln die Namen mitzuteilen, womit der Erweis für die Vorrangstellung Adams erbracht ist. Daraufhin fordert Allah die Engel auf, sich vor Adam niederzuwerfen; ein Befehl, dem alle Engel Folge leisten außer Iblis, der sich aus Hochmut weigerte (2,34).


1.2. Der verbotene Baum und die Übertretung

Den Namen von Adams Frau nennt der Koran nicht. Die Koranausleger nennen sie Hawa und fügen hinzu, daß sie während seines Schlafes aus der Rippe des Adam erschaffen wurde. Ihr und Adam erlaubt Allah uneingeschränkt die Nutzung des Paradieses, aber verbietet ihnen wie im Alten Testament, von einem bestimmten Baum zu essen. Der Koran erläutert nicht näher, um welchen Baum es sich dabei handelt. Aus Sure 20,120 wird jedoch indirekt deutlich, daß der Koran mit dem Genuß der Früchte des Baumes Unsterblichkeit verbindet oder auch, daß die Menschen Engeln gleich werden. Nach einer anderen Koranstelle (Sure 2,35) verbietet Allah sogar den Menschen, sich diesem Baum überhaupt zu nähern, da sie sonst zu "Frevlern" werden. Bis zu diesem Punkt unterscheiden sich Koran und Bibel also noch nicht grundlegend.

Nun tritt die Versuchung an Adam und seine Frau in Gestalt des Satans heran: Der Satan bringt die Menschen dazu, "einen Fehltritt zu tun" (2,36). Sure 20,120 berichtet, daß der Satan dem Menschen die Übertretung einflüsterte. Schon zuvor hatte Allah Adam davor gewarnt, daß der Satan ihn möglicherweise aus dem Paradies vertreiben könnte (20,117-119). Adam und seine Frau aßen von dem Baum. Sie erkannten ihre Nacktheit und machten sich Kleidung aus Blättern (2,121). Sie konnten nun nicht länger im Paradies bleiben. Allah vertreibt sie daraus (7,22), und sie wurden auf die Erde verbannt. Es ist bemerkenswert, daß Adam und seine Frau im Koran ihren Fehltritt erkennen und Allah um Verzeihung bitten (7,23), dabei aber betonen, daß sich ihre Sünde gegen sie selbst richtet (7,23): "Sie sprachen: "Unser Herr, wir haben wider uns selbst gesündigt ..." (7,21). Nicht Allah, sondern sie selbst sind die eigentlich Betroffenen der Übertretung des Gebotes. Diese Aussage, daß der Mensch immer gegen sich selbst sündigt und Allah mit der Sünde der Menschen nicht erreicht werden kann, macht der Koran noch an vielen weiteren Stellen. Allah vergibt Adam und seiner Frau diese Übertretung (2,37), und damit hat die Sünde im Paradies keine weiteren Folgen für die Menschheit und das Verhältnis zwischen Allah und Mensch.

Die Übertretung ist also nurmehr ein "Fehltritt", keine grundsätzliche Zerstörung des vorher vertrauten Verhältnisses zu Allah wie im Alten Testament. Zwar bestätigt der Koran, daß die Menschen aufgrund dieser Sünde nicht im Paradies bleiben konnten, aber aus dem Koran gewinnt man nicht den Eindruck, als ob dieses Ereignis besonders dramatisch sei oder für die gesamte Menschheitsgeschichte Folgen hätte wie es im Alten Testament der Fall ist. Auch gerät im Koran das Verhältnis zwischen Mann und Frau, das in der Bibel vor und nach dem Sündenfall anders wird, gar nicht in den Blickwinkel des Geschehens. Die einzige Folge scheint tatsächlich die zu sein, daß Adam und seine Frau aus dem Paradies auf die Erde vertrieben werden und für die Zukunft zwischen Mensch und Satan Feindschaft besteht (2,36). Allah "erwählte" Adam trotz dieser Übertretung, und "er wandte sich ihm (gnädig) wieder zu und leitete (ihn) recht" (2,122).

Der Koran hat also ein viel optimistischeres Menschenbild als die Bibel, wenn es darum geht, daß der Mensch das Gute, das Allah ihm befohlen hat, tun soll. Die Menschen nach Adam sind nicht grundsätzlich im Zustand der Sünde 'gefangen', aus dem sie erst erlöst werden müßten, um das Gute tun zu können. Der Mensch ist vielmehr in der Lage, gottgefällig zu leben, wenn er den Angriffen Satans widersteht. Dementsprechend ist die herausragende Sünde des Menschen nach dem Koran auch nicht der Zweifel an der Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit Gottes ("Sollte Gott gesagt haben ...?" 1Mo 3,1), sondern der Wille zur Selbstbestimmung und der Stolz, der sich nicht vor Allah beugen will.


1.3. Schlußfolgerungen

1.3.1. Das Verhältnis des Menschen zu Allah ist nicht grundsätzlich in Mitleidenschaft gezogen.

Die Sünde trennt den Menschen nicht von Allah, da auch zuvor keine anders geartete Beziehung bestand. Sünde betrifft Allah grundsätzlich nicht, sondern zuallererst den Menschen, der sie tut. Allah verzeiht alle Sünden des Menschen, seien es große oder kleine, denn seine Barmherzigkeit "kennt keine Grenzen" (7,156), wenn der Sünder Buße tut, sich von der Sünde abkehrt und sie nicht wieder tun möchte. Die islamische Theologie hat darüber debattiert, ob Allah Sünde vergibt, auch wenn der Mensch nicht bereut, was die Mehrheit bejaht hat. Nicht vergeben werden kann aber in jedem Fall der Unglaube (arab. kufr), wenn ihn der Mensch nicht bereut. Allah nimmt diese Reue immer an, denn ohne Erbsünde trennt den Menschen ja nichts grundsätzliches von Allah. Umkehr zum Islam läßt den Menschen lediglich zur Gemeinde der Gläubigen gehören, die Allah im Jüngsten Gericht erretten wird.

1.3.2. Das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch hat keinen Schaden genommen

da die Sünde nicht die zwischenmenschlichen Beziehungen vergiftet.

1.3.3. Der Mensch kann auch nach seiner Vertreibung aus dem Paradies weiterhin das Gute tun, wenn er den Einflüsterungen des Satans widersteht.

Die Versuchung tritt nur von außen an ihn heran. Sünde ist nicht Auflehnung gegen Gott, sondern nur ein "Fehltritt" (2,36). Das Leben des Menschen auf der Erde wird zu einer Art Bewährungsprobe, die ihm Allah durch sein Dasein auferlegt. Der Koran kennt also den Zwiespalt zwischen dem Gutes-tun-wollen und der Unfähigkeit, es auszuführen, wie ihn Paulus in Römer 7 beschreibt, nicht. Nicht das Herz des Menschen ist an sich böse, wie die Bibel bezeugt, sondern der Mensch (nicht nur im Paradies, sondern auch im täglichen Leben) wird von außen, durch den listigen Satan, den gefallenen Engel, der aus dem Himmel verstoßen worden ist, zum Bösen getrieben, um ihn zur Verfehlung zu verführen. Der Mensch hat jedoch die freie Wahl zwischen Gutem und Bösen bei seinem Handeln, auch wenn sich viele Menschen nicht für den islamischen Glauben und das Gute entscheiden. Allah stellt ihn nur auf die Probe. Obwohl zwar auch das Alte und Neue Testament erwarten, daß der Mensch Gutes tut, macht es doch unmißverständlich klar, daß es dem Menschen ohne die Kraft Gottes unmöglich ist, Gutes zu tun und außerdem alle guten Taten dieser Welt niemals ausreichen, daß sich auch nur ein Mensch selbst retten könnte. Eine Übertretung des Gesetzes Gottes kann nicht durch gute Taten getilgt werden, sondern bleibt bestehen, bis dafür die Vergebung durch Jesus Christus in Anspruch genommen wurde.

1.3.4. Es gibt nach muslimischer Auffassung Menschen ohne Sünde:

Alle Propheten sind sündlos. Auch der Prophet Jesus tat nach muslimischer Auffassung keine Sünde, war aber wie alle anderen Propheten dennoch nur ein Mensch. Aus dem Koran stammt diese Auffassung von der Sündlosigkeit der Propheten Allahs allerdings nicht; sie wurde erst von der islamischen Theologie erarbeitet. Der Koran berichtet immer wieder, wie die Propheten Allah für ihr Unrecht um Vergebung bitten mußten (Adam in 7,23; Noah in 11,47; Abraham in 14,41; Mose in 28,16; David in 38,24; Muhammad in 110,3; 48,2; eine konkrete Sünde wird hier für Muhammad jedoch nicht genannt). Louis Gardet nimmt mit A. J. Wensinck für das 10. Jahrhundert die erste Erwähnung der Sündlosigkeit Muhammads an. Das Konzept der Sündlosigkeit stammt offensichtlich aus der Schia, die sie seit der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts für die göttlich berufenen und von Allah gelenkten Leiter der Gläubigen (Imame) annahm. Zunächst hielt man in der Schia noch Irrtümer bei den Propheten für möglich, akzeptierte die Sündlosigkeit aber schon bald auch für Propheten. Nach der Schia akzeptierte ebenfalls bereits im 8. Jahrhundert als erstes die Mu'tazila (eine theologische Schule des sunnitischen Islam) das Dogma von der Sündlosigkeit.

Der Koran behauptet an keiner Stelle, Muhammad sei sündlos gewesen. Vielmehr weist Muhammad selbst immer wieder darauf hin, daß er nur ein Mensch sei. Noch im frühen Islam sind die offensichtlichen Irrtümer Muhammads keinesfalls tabuiisiert, wenn auch schon häufig in ihrer Bedeutung heruntergespielt worden. Insbesondere wurde immer wieder betont, daß Muhammad am Götzendienst seiner Landsleute keinen Anteil hatte. Uneinig ist sich die islamische Theologie allerdings darüber, ob Muhammad nur in Fragen der Offenbarungen und als Führer seines Volkes oder auch in ganz alltäglichen Dingen irrtumsfrei war; ebenso darüber, ob die Propheten zeit ihres Lebens oder erst nach ihrer Berufung zum Propheten irrtumslos und ob sie nur von großen oder auch allen kleinen Sünden befreit waren und ob die Propheten vielleicht (kleine) Sünden aus Unachtsamkeit oder Vergeßlichkeit begehen konnten.

1.3.5. Ohne Erbsünde braucht die Menschheit keine Erlösung.

E. E. Elder faßt das folgendermaßen zusammen:

"... Der Islam kennt das Dogma von der Sünde nicht, sondern nur von den Sünden. Das große Problem dabei ist die Einsortierung der Taten des Ungehorsams in die Kategorien große und kleine Sünden, sowie die Festlegung der jeweiligen Strafen dafür ... Für christliche Denker ist Sünde dagegen Rebellion gegen die Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes"

("Islam has no doctrine of sin, but only of sins, the great problem being the classification of disobedient acts into the categories of great and small and determining their respective punishments ... To Christian thinkers sin is a state of rebellion against the righteousness and holiness of God")

Um gerettet zu werden, ist es zwar notwendig, daß jeder Mensch eine Bekehrung zum Islam vollzieht, ohne die er beim Jüngsten Gericht keine Gnade erwarten kann. Aus der Überlieferung ist folgendes Gebet zu Muhammad bekannt:

"Du bist der Geliebte,
auf dessen Fürsprache man hofft
beim Großen Gerichtstag,
zu dem alle Menschen herbeiströmen werden.
Du bist der Mittler,
auf dessen Fürsprache man hofft
auf dem schmalen Pfad,
wenn der Fuß ausgleitet.
Dann sei mein Fürsprecher,
wenn ich im Grabe
und dein Gast geworden bin,
denn ein Gast wird geehrt".

Diese Bekehrung ist aber keine Erlösung, sondern ein Gehorsamsakt des Menschen gegenüber Allah.

1.3.6. Der Islam kennt den Gedanken der juristischen Stellvertretung nicht.

Jeder ist nur für sich selbst verantwortlich und handelt nur für seine eigene Person. Nicht so im Alten und Neuen Testament: Adam sündigte als Repräsentant für die ganze Menschheit (Röm 5,12) und zerstörte damit die Beziehung aller Menschen zu Gott. Ebenso erwirkt Christus durch sein Opfer stellvertretend die Erlösung für seine Gemeinde, der damit der verdiente Tod für ihre Sünde erspart bleibt.

Denn, so argumentiert man, die stellvertretende Erlösung aller Menschen müßte ja das Ende der Sünde bedeuten, so daß alle Verbrecher, die stehlen, morden oder ehebrechen, keine Verbrecher mehr wären. Vielmehr träte doch klar zutage, daß sich die Menschheit mit ihren schlechten Taten nicht geändert habe und von Erlösung nichts zu bemerken sei. Auch die Bibel mache doch ganz klar, daß die Übeltäter verloren gehen. Daß auch der erlöste Mensch die Freiheit hat, das Böse zu tun, daß der Satan bis zum Jüngsten Gericht noch in der Welt herrscht und außerdem die Erlösungstat Jesu Christi nicht auf magische Weise über alle Menschen ausgegossen wird, ob sie nun daß Gute tun wollen oder nicht, bleibt dabei von der muslimischen Theologie unberücksichtigt.


2. Die Kreuzigung von Jesus Christus im Islam

Da der Islam keine Erbsünde und keine stellvertretende Erlösung anerkennt, kann auch die Kreuzigung, das Kernstück der christlichen Erlösungstheologie (1Kor 15,19) im Islam selbstredend nicht dieselbe Bedeutung haben. Der Koran äußert sich nur an einer einzigen Stelle explizit zur Kreuzigung. Diesen Koranvers hat die muslimische Theologie sehr ausführlich, wenn auch sehr unterschiedlich ausgelegt. Zutreffend bemerkt Heikki Räisänen zum Tod Jesu:

"Wie dachte Mohammed über den Tod Jesu? Das ist zweifellos das schwierigste Einzelproblem der koranischen 'Christologie'".

Sure 4,157+158 sagt über die Juden:

"... und (weil sie ) sagten: 'Wir haben Christus Jesus, den Sohn der Maria und Gesandten Gottes, getötet.'- Aber sie haben ihn (in Wirklichkeit) nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich (so daß sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten) ... Und sie haben ihn nicht mit Gewißheit getötet (d. h. sie können nicht mit Gewißheit sagen, daß sie ihn getötet haben). Nein, Gott hat ihn zu sich (in den Himmel) erhoben".

Schon hier wird deutlich, daß der Koran auf die Bedeutung der Kreuzigung als Erlösungstat überhaupt nicht eingeht, und man muß auch hier wieder annehmen, daß Muhammad in seiner Umwelt wohl niemals eine umfassende Darstellung der eigentlichen christlichen Vorstellung von der Kreuzigung erhalten hat.

Es ist aufgrund der arabischen Wortwahl und Grammatik sehr schwierig, den 'Kreuzigungsvers' des Korans richtig zu verstehen. Vom Wortlaut her kann man nämlich eine tatsächliche Kreuzigung und einen Tod Jesu annehmen oder beides ablehnen und zwar aufgrund des im Koran nur an dieser Stelle gebrauchten arabischen Ausdrucks 'shubbiha lahum' (etwa: "es" oder "er erschien ihnen so, als ob" oder "es" oder "er wurde für sie ähnlich gemacht"). Es ergeben sich mehrere Auslegungsmöglichkeiten:


2.1. Niemand wurde gekreuzigt.

Dann wäre der Sinn des Verses, daß unklar blieb, was bei der Kreuzigung wirklich geschah. Die Juden planten zwar, Jesus zu kreuzigen, aber "es erschien ihnen nur so, als ob" eine Kreuzigung Jesu stattgefunden hätte. Die Juden waren also der Ansicht, Jesus gekreuzigt zu haben, in Wirklichkeit aber entging er mit Hilfe der in der Bibel berichteten Finsternis und des Erdbebens der Hinrichtung und wurde von Allah rechtzeitig in den Himmel erhoben. Nur eine Minderheit der muslimischen Theologen vertritt, daß niemand ans Kreuz geschlagen wurde.


2.2. Jesus wurde zwar gekreuzigt, aber auf Allahs Ratschluß hin.

Ferner könnte der Vers betonen, daß Jesus zwar gekreuzigt wurde, aber nicht, weil die Juden dies beabsichtigten, sondern letzten Endes, weil Allah es so beschlossen hatte. Die Betonung wäre dann: "Sie haben ihn nicht getötet" (sondern Gott war der Verursacher seines Todes, die Römer die Ausführenden). Auch diese Meinung ist in der muslimischen Theologie heute eher eine Außenseiterposition.


2.3. Ein anderer wurde an Jesu Stelle gekreuzigt.

Eine weitere Übertragung des Ausdrucks 'shubbiha lahum' könnte lauten: Er, Jesus, erschien ihnen so, als ob er gekreuzigt wurde. Dann wäre der Sinn des Verses, daß Jesus selbst nicht gekreuzigt wurde, sondern ein anderer entweder unabsichtlich mit Jesus verwechselt wurde (so in der Neuzeit etwa Muhammad Taufîq Sidqî oder der schiitische Theologe Muhammad Husain Tabâtabâ'î) oder absichtlich von Allah Jesus ähnlich gemacht und an seiner Stelle gekreuzigt wurde. Jesus wurde lebendig in den Himmel erhoben und jedermann war der Meinung, Jesus selbst sei gekreuzigt worden (so z. B. der klassische Korankommentator at-Tabarî). Diese Deutung hat heute in der islamischen Welt das größte Gewicht. Wer an Jesu Stelle gekreuzigt wurde, darüber gibt es wiederum zahlreiche Ansichten.


2.3.1 Wurde Jesus oder ein anderer gekreuzigt?

Wenn Jesus nicht selbst gekreuzigt wurde, ist die Frage, wer an seine Stelle trat. Auf diese Frage haben muslimische Ausleger die verschiedensten Antworten gegeben, da der Koran diesen Aspekt überhaupt nicht erwähnt. Manche Ausleger wie Zamahsharî oder Baidâwî sind der Ansicht, es habe sich einer der Jünger wie z. B. Petrus freiwillig als 'Ersatz' gemeldet, da Jesus ihm das Paradies versprochen habe, andere, Judas sei als Ersatz ausgesucht worden, um seine Schuld des Verrats zu sühnen. Aber auch andere Personen sind erwogen worden, darunter ein Unbekannter, ein Jude oder ein zufällig im Haus Anwesender; Simon von Kyrene, der das Kreuz trug; Josua; der Jude Titanus; ein Wächter, der Jesus bewachen sollte und in die Ähnlichkeit Jesu verwandelt wurde; Allah schuf in diesem Moment einen Menschen, der Jesus ähnlich sah; Allah setzte Satan an die Stelle Jesu; Jesus Barabbas wurde durch eine Verwechslung gekreuzigt, Jesus wurde freigelassen; der Jude Fal Tayanus; ein jüdischer Rabbi; einer der römischen Soldaten oder ein Verbrecher, den Allah in die Angelegenheit mithineingezogen hatte u. a. m.

In der Neuzeit überwiegt in der muslimischen Koranauslegung - obwohl es auch explizit ablehnende Stellungnahmen zu dieser Theorie gibt - auf jeden Fall die sogenannte 'Substitutionstheorie', d. h., die Auffassung von einem 'Ersatz', der an der Stelle von Jesus gekreuzigt, aber aufgrund der von Allah bewirkten 'Ähnlichkeit' für Jesus gehalten wurde, so daß die Umstehenden der Meinung waren, sie hätten Jesus selbst gekreuzigt. Die meisten Ausleger sind der Ansicht, einer der Jünger sei ans Kreuz geschlagen worden, wobei einige diesen konkret benennen, andere die Frage offen lassen. Dann sei Jesus mit dem Geist oder mit Körper und Geist lebendig in den Himmel aufgenommen worden.

Übereinstimmung unter muslimischen Auslegern hinsichtlich des 'Kreuzigungsverses' in Sure 4,157 besteht demnach eigentlich nur darüber, daß Jesus durch seinen (ohnehin umstrittenen) Tod am Kreuz keine Erlösung erwirken konnte.


2.3.2. Was geschah mit Jesus?

Ebenso unklar, wie die Frage, ob Jesus am Kreuz starb, ist auch die im Kreuzigungsvers nun folgende arabische Wendung 'mâ qatalûhu yaqînan' (etwa: 'sie töteten ihn nicht mit Gewißheit'). Es ergeben sich wieder mehrere Möglichkeiten, diese Wendung zu verstehen:

1. Jesus wurde gekreuzigt, starb aber nicht dabei: Es könnte gemeint sein, daß die Juden Jesus nicht wirklich töteten. Jesus könnte zwar gekreuzigt worden sein, starb aber nicht dabei und wurde schließlich noch lebend vom Kreuz abgenommen. Dann bedeutet der Begriff kreuzigen (salaba) nicht unbedingt, am Kreuz auch zu sterben. Daraus ergeben sich wieder mehrere Möglichkeiten, was mit ihm anschließend geschah (s. auch unten).

2. Jesus wurde nicht gekreuzigt und daher nicht getötet: Diese Deutung legt die Verbindung in der obigen Formulierung des Kreuzigungsverses nahe: "sie haben ihn nicht getötet und nicht gekreuzigt". Dann läge die Betonung darauf, daß Jesus überhaupt nicht getötet wurde: "sie töteten ihn gewiß nicht".

3. Niemand erlangte Klarheit darüber, ob Jesus getötet wurde: "sie töteten ihn nicht mit Gewißheit" hieße dann, daß man darüber keine Gewißheit erlangen konnte. Diese Deutung läßt die meisten Möglichkeiten offen, was mit Jesus wirklich geschah, ob er überhaupt gekreuzigt wurde oder mit Geist oder Körper in den Himmel auffuhr.


2.3.3. Warum sollte Gott die Kreuzigung zulassen?

Somit ist aus dem Korantext selbst kein eindeutiger Schluß zu ziehen, was er tatsächlich über die Kreuzigung Jesu aussagen möchte. Klar ist indessen, daß der Koran nicht die Kreuzigung explizit lehrt oder erklärt und erst recht nicht auf seine Bedeutung eingeht. Die islamische Theologie hat den Vers jedoch überwiegend als klare Ablehnung der Kreuzigung verstanden. Warum wird die Kreuzigung Jesu von muslimischen Apologten so vehement bekämpft? Die islamische Dogmatik lehrt:

1. Kreuzigung bedeutet Niederlage: Wenn Jesus am Kreuz gestorben wäre, würde das das Scheitern seiner gesamten Mission bedeuten: Von den Jüngern verlassen, von Judas verraten, von Petrus verleugnet, stirbt Jesus ohne den sichtbaren Erfolg vieler Bekehrungen oder der Errichtung eines Weltreiches wie etwa des islamischen Reiches, das sich schon zu Lebzeiten Muhammads im 7. Jahrhundert zu bilden begann. Muhammads religiöse wie politische Erfolge als Prophet und Politiker werden von der islamischen Theologie unter anderem als Beweis dafür betrachtet, daß er wahrhaftig von Gott gesandt war.

2. Kreuzigung bedeutet Schmach: Der Tod Jesu am Kreuz wäre ein schmachvolles Ende gewesen, das einem so geachteten Propheten nicht zukäme. Allah hätte ungerecht gehandelt, wenn er ihn einen solchen Tod erleiden ließe. Diese Hinrichtung käme nur einem Frevler oder einem Verbrecher zu. Eine Kreuzigung würde bedeuten, daß sich auch Allah bei Jesu Tod nicht auf die Seite seines Gesandten stellt und ihn nicht vor dem Verbrechen der Kreuzigung errettet. Man hat sogar angenommen, daß der Koran mit diesem gegen die Kreuzigung gerichteten Vers eine Art 'Ehrenrettung' für Jesus vornehmen wollte, zu der auch das Ende des Kreuzigungsverses passen würde: "Gott hat ihn zu sich (also wohl in den Himmel) erhoben" und damit dem Zugriff seiner Verfolger entzogen. Hermann Stieglecker formuliert:

"Die Vorstellung der Christen, daß sich Gott so tief erniedrigte, daß er sich von seinen Feinden, vom gemeinsten Pöbel verhöhnen, verspotten und mißhandeln lasse wie ein Schwachsinniger oder wie ein Narr und daß er schließlich den schandvollsten und qualvollsten Tod erleidet wie ein Verbrecher zwischen zwei richtigen Verbrechern, ist eine unerhörte Schmach ..."

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß die Kreuzigung, die auch im Koran als Strafe für diejenigen erwähnt wird, die gegen "Gott und seinen Gesandten Krieg führen" (5,33). Die Kreuzigung wurde in der islamischen Geschichte als eine der Strafen für Kapitalverbrechen (sog. hadd-Strafen) angewandt und galt als besonders schändlich.

3. Auch die Bibel stützt die Kreuzigung nicht: Muslimische Theologen zogen immer wieder zur Untermauerung dieser Argumente die Bibel selbst hinzu und wiesen darauf hin, daß auch das Alte Testament in 5. Mose 21,23 lehrt, daß der ans Holz Gehängte von Gott verflucht ist. Also konnte Allah seinen Propheten gar nicht so enden lassen, denn er war bei ihm geehrt, nicht verflucht. Aus den Evangelien wird argumentiert, daß die Worte Jesu am Kreuz "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" klar machen, daß Jesus gegen seinen Willen (und nicht, wie die Christen behaupten, freiwillig) litt. Zudem bewiesen diese Schmerzensschreie (so werden die Worte Jesu gedeutet), wenn er angeblich der Sohn Gottes gewesen sei, daß er noch schwächer gewesen sei als die mit ihm gekreuzigten Verbrecher, die nicht geschrieen hätten.

Ein weiteres Argument dafür, daß Jesus vom Tod errettet wurde, stammt aus dem Hebräerbrief: "Der in den Tagen seines Erdenlebens unter lautem Rufen und Weinen zum Allmächtigen betete und ihn anflehte, ihn vor dem Tode zu bewahren, und er erhörte ihn ob seiner Gottesfurcht" (Hebr 5,7); ein Vers, den die christliche Theologie auf die Auferstehung deutet. Ebenso berichtet aus muslimischer Sicht Röm 6,4 von der Scheinbarkeit des Todes Jesu: "Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe. Denn wenn wir mit ihm vereint wurden durch die Ähnlichkeit des Todes, werden wir es auch sein durch seine Erhöhung; wir wissen, daß der alte Mensch in uns mit ihm gekreuzigt wurde". Nach muslimischem Verständnis besagt dieser Vers, daß Jesus keinen tatsächlichen Tod starb, sondern nur die Ähnlichkeit des Todes erlitt. Zudem, so argumentieren zahlreiche Apologeten, widersprechen sich die verschiedenen biblischen Berichte über die Kreuzigung in den Evangelien erheblich, und, wie einer der geistigen Führer der ägyptischen Muslimbruderschaft Sayyid Qutb hervorgehoben hat, sie stammen nicht von Augenzeugen. Auch daraus wird die Unzuverlässigkeit und Unglaubwürdigkeit der dortigen Berichte deutlich.

4. Die Kreuzigung und stellvertretende Erlösung ist intellektueller Unsinn: Immer wieder hat die muslimische Theologie darauf hingewiesen, daß der Gedanke, daß der Tod eines Menschen (für die muslimische Theologie ist Jesus ja nicht Gott, sondern nur ein Mensch) für einen anderen Menschen irgendetwas bewirken könnte, verstandesmäßig nicht nachzuvollziehen sei. Daß Jesus seinen Tod zudem nicht verdient hat, sondern er als Unschuldiger litt, macht die Sache noch unglaubwürdiger. Damit ist die Aussage der Christen, daß der Prophet Jesus durch seinen Tod alle Sünden dieser Welt getragen haben soll, nicht nur unverständlich, sondern auch mit dem menschlichen Verstand nicht zu vereinbaren. (Muslimische Apologeten haben gegen christliche Dogmen sehr oft argumentiert, daß sie sich nicht mit dem Verstand vereinbaren ließen. Hier liegt natürlich ein Zirkelschluß vor. Da bereits vorher festgelegt ist, daß die muslimischen Dogmen vernünftig sind, muß alles davon abweichende ja "unvernünftig" sein).

5. Die Vorstellung der Kreuzigung stammt aus den heidnischen Religionen: Bedeutende muslimische Apologeten wie der berühmte Kairiner Religionswissenschaftler und Jurist Muhammad Muhammad Abû Zahra (1898-1974) oder der in Cambridge promovierte Historiker und ägyptische Religionswissenschaftler Ahmad Shalabî haben argumentiert, daß Lehren wie die Dreieinigkeit, Gottessohnschaft und auch die christliche Vorstellung von der Erlösung keine ursprünglichen Lehren des Christentums seien, sondern erst von Paulus, dem 'Verderber des Christentums', nach Jesu Tod dort hinein integriert wurden. Sie stammen aus dem römisch-heidnischen Umfeld und wuchsen unter Vermischung des Christentums mit dem Neuplatonismus und Judentum hinein. Ahmad Shalabî wie auch der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Ägypten überaus einflußreiche Reformtheologe Muhammad Rashîd Ridâ (1865-1935) machen für die christliche Vorstellung von der Erlösung durch Blutvergießen dagegen die Übernahme heidnischer Vorstellungen aus den Religionen Tibets, Nepals oder Indiens verantwortlich. Die Lehre von der Vergebung durch den Kreuzestod könnte, so der in den 1920er Jahren vom Judentum zum Islam konvertierte Muhammad Asad, aus dem Mithras-Kult stammen, ist aber jedenfalls nach Jesu Tod erfunden worden.

6. Kreuzigung und Gottessohnschaft kommen einer Vermischung von Schöpfer und Geschöpf gleich: Die absolute Allmacht und unangefochtende Stellung Allahs als Schöpfer und Herrscher des Universums auf der einen Seite bedeutet nach muslimischer Dogmatik automatisch die Unmöglichkeit jeglicher Vermischung oder Gleichsetzung mit dem Menschen oder einem sonstigen Geschöpf; auch nicht mit einem Propheten, wie es am Beispiel von Jesus deutlich wird. Die christliche Lehre, daß dieser natürliche Abstand zwischen Schöpfer und Geschöpf durch die Inkarnation Jesu überbrückt wurde und Jesus Christus als Mensch zu den Menschen kam, wird von der islamischen Theologie dagegen völlig abgelehnt, da damit der Grundsatz des 'tauhid' (die 'Einsheit' Allahs) verletzt würde.

2.3.4. Die historisch- kritische Theologie liefert Beweise für muslimische Apologetik

Es wurde bereits deutlich, daß die muslimische Apologetik auf die Bibel selbst zurückgreift, um die Ablehnung der Kreuzigung zu untermauern. Noch mehr Polemik gegen das Christentum, wie etwa die Anklage, Paulus sei der Verderber der ursprünglichen christlichen Lehre, stammt aus Werken der historisch-kritischen Theologie Europas vorwiegend aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Dort war zu dieser Zeit vor allem von Theologieprofessoren deutscher Universitäten viel Material erstellt worden, warum und an welchen Stellen die Bibel im Alten und Neuen Testament unglaubwürdig und insbesondere historisch unzuverlässig sei. Muslimische Apologeten haben dieses Material teilweise übersetzt und es sich in überreichem Maße zunutze gemacht, um 'wissenschaftliche' Argumente aus dem Mund von Fachleuten (nämlich den christlichen Theologen) gegen die Bibel vorbringen zu können. Ganze Sammel- und Nachschlagewerke der "Widersprüche, Irrtümer und Fehler" des Alten und Neuen Testamentes wurden schon Mitte des 19. Jahrhunderts von muslimischen Theologen erstellt und werden teilweise bis heute nachgedruckt und erweitert. Konnten zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch bibeltreue Missionare in der islamischen Welt von der Zuverlässigkeit der Bibel sprechen, wurden ihnen etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche "Beweise" gegen das Christentum aus den Werken von Strauss, Michaelis, Eichhorn und anderen entgegengehalten.

Auch bei der Kreuzigung wurden zahlreiche historisch-kritische Textauslegungen europäischer Theologen hinzugezogen, die z. B. argumentierten, daß aus den biblischen Berichten hervorgehe, aufgrund der aufgekommenen Finsternis und des Erdbebens im Zusammenhang mit der Kreuzigung sei ein Chaos und große Verwirrung entstanden, so daß unklar blieb, was mit Jesus wirklich geschah. Die Evangelienberichte wurden als untereinander widersprüchlich und unglaubwürdig verurteilt. Eine der muslimischen Deutungen der Kreuzigung, daß Jesus nämlich die Kreuzigung überlebte, erhält ihre eigentliche Unterstützung aus dem Bereich des europäischen Rationalismus, der letzten Epoche der Aufklärungstheologie des 18. und 19. Jahrhunderts:


2.3.5. Christliche Rationalisten leugnen die Kreuzigung

Man kann beobachten, daß sich die Autoren der älteren Korankommentare vergleichsweise vorsichtig darüber äußern, was mit Jesus bei der Kreuzigung geschah. Häufig beschränken sich die Autoren darauf, den Versteil aus Sure 4 zu betonen: "Sie haben ihn nicht getötet und auch nicht gekreuzigt", ohne näher darauf einzugehen, was mit Jesus geschah. In moderneren Korankommentaren ändert sich diese Haltung: Der Kreuzigungsvers wird detaillierter ausgelegt und meist der 'Ersatztheorie', nach der ein anderer am Kreuz starb, der Vorzug gegeben. Insbesondere seit der arabischen Übersetzung des Barnabasevangeliums 1908 (s. oben) wird vermehrt angenommen, Judas sei statt Jesus gekreuzigt worden. Auch eine der anderen Ansichten, daß Jesus nämlich gekreuzigt wurde, aber die Kreuzigung überlebte, ist vielleicht nicht im islamischen Bereich selbst aufgekommen, sondern möglicherweise aus Europa 'importiert' worden: Auch Vertreter des Rationalismus sprechen von einer totenähnlichen Starre, in der sich Jesus nach der Kreuzigung befunden habe, aus der er später durch ein Gewitter und ein Erdbeben wiederbelebt worden sei und dann den Mythos von der Auferstehung von den Toten in Umlauf gesetzt habe.

Schon Karl Heinrich Georg Venturini (1768-1849), ein Vorläufer des Rationalismus, spielt in seinem einflußreichen Romanwerk zum Leben Jesu 'Natürliche Geschichte des großen Propheten von Nazareth' auf die Möglichkeit eines Scheintodes an. Karl Friedrich Bahrdt (1741-1792) formuliert später in seinem Werk 'Ausführungen des Plans und Zwecks Jesu':

"... das ist mein Urtheil über diesen letzten Theil der Geschichte Jesu. Jesus ist hingerichtet worden: er hat alle Leiden eines Missethäters, alle Qualen des Todes ausgestanden, aber er hat sie auch überstanden - er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen - er ist aus der Begräbnißhöhle ... am dritten Tage nach der Hinrichtung - als ein völlig hergestellter wieder ... heraus gegangen und hat sich als einen Neuaufgelebten seinen Jüngern gezeigt ...".

Diese Bemerkungen K. F. Bahrdts wurden von Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851) in 'Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums' aufgegriffen. Paulus leugnete alles Übernatürliche an Jesu Leben und Sterben und war hinsichtlich des Kreuzestodes davon überzeugt, "... daß es sich nur um eine totenähnliche Erstarrung gehandelt haben kann", denn

"die körperliche Wiederbelebung Jesu ist an sich so historisch klar" ..., daß eine weitere "... Bestätigung der Tatsache gar nicht nöthig ist".

Diese Hypothese wurde von zahlreichen namhaften Theologen, darunter Daniel Ernst Friedrich Schleiermacher (1768-1834), übernommen. Daß 'kreuzigen' nicht unbedingt 'am Kreuz sterben' bedeutet, ist also nicht nur eine muslimische Auffassung, sondern bereits vor ihrem Aufkommen in der muslimischen apologetischen Literatur im europäischen Rationalismus verfochten worden und möglicherweise von dort in die islamische Theologie übernommen worden.


2.3.6. Überlebte Jesus die Kreuzigung?

Das mögliche Überleben der Kreuzigung, vom Rationalismus so vehement vertreten, wurde im islamischen Bereich insbesondere von der aus dem Islam hervorgegangenen Ahmadîya-Bewegung (eine Abspaltung des Islam aus der Zeit der Jahrhundertwende, die 1976 von der pakistanischen Nationalversammlung als häretische Lehre erklärt wurde) übernommen: In zahlreichen Veröffentlichungen wurde die Theorie proklamiert, daß Jesus zwar ans Kreuz genagelt worden sei, er aber nur die Kreuzigung in einer Ohnmacht überlebt habe und im kühlen Grab durch besondere Salben wiederbelebt worden sei. Dann sei er durch Afghanistan nach Kaschmir gewandert auf der Suche nach den verlorenen zehn Stämmen Israels. Er heiratete dort, starb im Alter von etwa 120 Jahren eines natürlichen Todes und wurde in Srinagar, Kashmir, begraben. Dort wird bis heute das Grab eines Yuz Asaf als Grab Jesu verehrt. Heute erfährt die Theorie, daß Jesus seine Kreuzigung überlebt haben könnte, in neuen und neuesten Veröffentlichungen auch auf dem deutschen Buchmarkt eine erneute Renaissance.


2.3.7. Weitere Koranstellen zum Tod Jesu

Außer dem 'Kreuzigungsvers' in Sure 4, 157 können nur noch wenige weitere Koranstellen zur Frage des Todes Jesu hinzugezogen werden, die jedoch nichts zur Klärung der Frage, was Muhammad über die Kreuzigung Jesu dachte, beitragen. Die erste Stelle ist Sure 3,55: "(Damals) als Allah sagte: 'Jesus! Ich werde dich (nunmehr) abberufen und zu mir (in den Himmel) erheben und rein machen, so daß du den Ungläubigen entrückt bist" und spricht, genau genommen, nicht explizit vom Tod Jesu, sondern vom 'abberufen' oder 'zu sich nehmen', was man als Euphemismus auf den Tod Jesu gedeutet hat; ein Begriff, der jedoch auch einer Entrückung ohne einem vorherigen leiblichen Tod Jesu nicht widersprechen würde.

Eine zweite Stelle im Anschluß an den 'Kreuzigungsvers' in Sure 4,159 spricht vielleicht am deutlichsten vom Tod Jesu, wenn sie im Zusammenhang mit der Person Jesu formuliert: "Und es gibt keinen von den Leuten der Schrift, der nicht (noch) vor seinem (d.h. Jesu) Tod an ihn glauben würde". Über den Zeitpunkt des Todes Jesu ist aber auch damit noch nichts ausgesagt.

Schließlich gibt noch ein weiterer Koranvers indirekt Aufschluß über den Tod Jesu: "Heil sei über mir am Tag, da ich geboren wurde, am Tag, da ich sterbe, und am Tag, da ich (wieder) zum Leben auferweckt werde!" (19,33)

Geoffrey Parrinder weist darauf hin, daß der hier angedeutete Tod Jesu, eigentlich ohne daß der Text darauf einen wirklichen Hinweis gäbe, in frühislamischer Zeit stets auf den Tod Jesu bei seiner Wiederkunft gedeutet wurde und führt den Traditionssammler Baidawi an, der für ein zweites Kommen Jesu 40 weitere Jahre Jesu auf der Erde annahm, dann sterben und von Muslimen begraben werden würde. Der Koran erwähnt allerdings von einer zweiten Wiederkunft Jesu, seinem zukünftigen möglichen Handeln und seinem Tod nichts; diese Annahmen entstammen nur der Überlieferung. Weitergehende Annahmen ergeben sich für muslimische Ausleger allein aus den Traditionen. Ferner besteht die Möglichkeit, daß Jesus schon kurz nach seinem natürlichen Tod auf Erden zum Leben wiedererweckt worden ist (auch für diese Annahme soll es Belege aus der Überlieferung geben).

Eine vierte, aber schon für die Frage des Todes Jesu viel schwieriger zu deutende Koranstelle findet sich in Sure 5,17:

"Ungläubig sind diejenigen, die sagen: 'Gott ist Christus, der Sohn der Maria'. Sag: Wer vermöchte gegen Gott etwas auszurichten, falls er (etwa) Christus, den Sohn der Maria und seine Mutter und (überhaupt) alle, die auf der Erde sind, zugrunde gehen lassen wollte (w. zugrunde gehen lassen will)? Gott hat die Herrschaft über Himmel und Erde und (alles) was dazwischen ist. Er schafft, was er will, und hat zu allem die Macht".

Allerdings erwägt dieser Vers lediglich die Möglichkeit eines Todes Jesu aufgrund des Eingreifens Allahs und sagt nichts über die tatsächliche Todesart Jesu aus. Allerdings deutet der Vers indirekt auf die Menschlichkeit Jesu hin, indem er Jesus neben seine Mutter stellt und die Macht Allahs betont, dem Leben eines jeden Menschen zu jeder Zeit ein Ende bereiten zu können. In ähnlicher Weise könnte man Sure 5,75 auffassen: "Christus, der Sohn der Maria, ist nur ein Gesandter. Vor ihm hat es schon (andere) Gesandte gegeben". Jesus wird damit in die Reihe früherer Propheten eingereiht, die, wie der Koran an anderen Stellen ausdrücklich betont, nur sterbliche Menschen und nur partiell zu ihrem eigenen Volk gesandt waren.

Schließlich könnten für die Frage nach dem Tod Jesu einige weitere Verse herangezogen werden, die ganz allgemein von Tod und Wiederauferweckung sprechen wie etwa Sure 6,122:

"Ist denn einer, der tot war, und den wir dann zum Leben erweckt, und dem wir Licht gegeben (w. gemacht) haben, in dem er unter den Menschen umhergeht, (gleich) wie einer, der in der Finstenris ist und nicht aus ihr herauskommen kann? So kam den Ungläubigen (von jeher) schön vor, was sie (in ihrem Erdenleben an Bösem) getan haben".

Allerdings weist weder dieser Vers selbst noch der Textzusammenhang auf Jesus hin, so daß derartige Verweise höchstens dafür herangezogen werden können, daß der Koran von Tod und Wiederauferweckung durch Allah spricht.


2.4. Zusammenfassung: Die Kreuzigung im Koran

Der Koran geht an einer einzigen Stelle in Sure 4,157-158 explizit auf die Kreuzigung Jesu ein. Es ist vom Wortlaut her unklar, ob der Vers generell die Kreuzigung Jesu ablehnt oder eine andere Betonung hat. Die muslimische Theologie ist sich insofern einig, als daß sie die Kreuzigung, insbesondere jedoch die Erlösung der Menschheit durch die Kreuzigung klar ablehnt. Zahlreiche Argumente liefern dazu Werke der historisch-kritischen Theologie Europas. Was mit Jesus im einzelnen nach dem Ereignis der Kreuzigung geschah, darüber gehen die Auffassungen der muslimischen Theologen weit auseinander. Die Ansicht von der Kreuzigung eines 'Ersatzes' für Jesus, möglicherweise Judas, ist heute in der islamischen Welt sehr populär. Die Ahmadîya-Bewegung nimmt wie etliche Theologen des europäischen Rationaismus bereits im 18. und 19. Jahrhundert an, Jesus habe die Kreuzigung überlebt, sei nach Indien ausgewandert und dort eines natürlichen Todes gestorben.



3. Kreuzigung und Erlösung in Koran und Bibel: Ergebnisse

Im Islam tritt uns - trotz mancher äußerlicher Ähnlichkeiten zu biblischen Aussagen - eine völlig andere Auffassung von Sünde und Erlösung entgegen. Der Mensch sündigt zwar im Paradies, aber dies hat keine Folgen für die Menscheit. Der Koran kennt keine Erbsünde. Daher hat der Islam ein wirklich optimistisches Menschenbild: Der Mensch kann der Sünde widerstehen und das Gute tun, da er nicht unter die Sünde verkauft ist. Wenn der Mensch nicht von Gott getrennt ist, dann braucht er auch keine Erlösung, und der Sinn des Todes Jesu am Kreuz wird unverständlich. Zudem kann aus muslimischer Sicht der Opfertod eines Menschen (Jesus ist ja nach dem Koran nur Mensch) für andere Menschen nichts bewirken. Die islamische Theologie lehnt die Sündenvergebung durch Blutvergießen strikt ab.

Islam und Christentum stimmen zwar rein äußerlich in manchen Punkten überein. Bei den entscheidenden Fragen wie Kreuzigung und Erlösung, die für Christen das Zentrum ihres Glaubens ausmachen, ist es jedoch nicht möglich, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Obwohl Dialogbefürworter immer wieder davon sprechen, daß Christen und Muslime doch "an denselben Gott" glaubten, werden sie vor allem die gegenteilige Auffassung, wie der Mensch das Heil erlangt, niemals wegerklären können. Nur dort, wo Christen einen Teil der christlichen Grundwahrheiten aufgeben und z. B. nicht mehr an der Dreieinigkeit oder Gottessohnschaft Jesu festhalten, kann ein inhaltlicher Dialog überhaupt stattfinden, da die muslimische Theologie ihre Grundauffassungen, z. B. von der Sendung Muhammads als Prophet Gottes und ihre Ablehnung der christlichen Erlösungsauffassung niemals aufgeben wird. Theologisch tut sich zwischen Islam und Christentum auch heute ein tiefer Graben auf, der nicht wegerklärt, sondern nur durch Glauben überwunden werden kann.



[ 1 ] Dr. Christine Schirrmacher studierte Islamwissenschaft, Geschichte und Religionswissenschaft in Giessen und Bonn und promovierte 1991 mit einer Arbeit zur christlich-islamischen Kontroverse im 19. und 20. Jahrhundert. Sie unterrichtet Islamkunde an der Freien Theologischen Akademie Giessen und im Martin Bucer Seminar Bonn und Hamburg. Sie ist wissenschaftliche Leiterin des "Instituts für Islamfragen (IfI) der Deutschen Evangelischen Allianz" (www.islaminstitut.de) und veröffentlichte mehrere Bücher zum Thema Islam, darunter "Der Islam – Geschichte, Lehre, Unterschiede zum Christentum", 2 Bde., Hänssler: Holzgerlingen 1994/2003.

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Ins Netz gesetzt am 24.04.2005; letzte Änderung: 06.05.2016

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