Die Regeln der Textkritik

Die klassischen Grundsätze zur Beurteilung von Textvarianten (nach Kurt Aland)

1. Nur eine Lesart kann die ursprüngliche sein, mögen zu einer Stelle auch noch so viele Varianten existieren. Lediglich in ganz seltenen Fällen wird es angesichts der Tenazität der neutestamentlichen Überlieferung bei textlich irgendwie relevanten Stellen zu einem non liquet zwischen zwei oder mehreren konkurrierenden Lesarten kommen können. Die Lösung von Schwierigkeiten im Text durch eine Konjektur (Änderung) oder die Annahme von Glossen, Interpolationen usw. an Stellen, wo die Textüberlieferung keine Brüche aufweist, ist nicht gestattet. Sie bedeutet eine Kapitulation vor den Problemen bzw. eine Vergewaltigung des Textes.

2. Nur die Lesart kann ursprünglich sein, bei welcher die äußeren und die inneren Kriterien zu optimaler Übereinstimmung kommen.

3. Die Arbeit an der Textkritik hat stets bei dem Befund in der handschriftlichen Überlieferung zu beginnen, erst dann sind die inneren Kriterien zu berücksichtigen.

4. Die inneren Kriterien (Kontext der Stelle, Stil und Sprachschatz, theologische Vorstellungswelt des Autors usw.) allein können eine textkritische Entscheidung nicht begründen, das gilt vor allem dann, wenn sie im Gegensatz zum äußeren Befund stehen.

5. Das Schwergewicht bei einer textkritischen Entscheidung liegt bei der griechischen Überlieferung, der in den Versionen und Kirchenvätern kommt im allgemeinen nur eine ergänzende und kontrollierende Funktion zu, insbesondere dann, wenn der zugrundeliegende griechische Text nicht mit letzter Sicherheit zu rekonstruieren ist.

6. Dabei sind die Handschriften zu wägen, nicht zu zählen, außerdem sind bei jeder Handschrift ihre spezifischen Eigenarten zu berücksichtigen. Bei aller Hochschätzung der frühen Papyri, bestimmter Majuskeln und Minuskeln gibt es doch keine Einzelhandschrift und keine Gruppe von Handschriften, der man mechanisch folgen könnte, wenn auch bestimmte Kombinationen von Zeugen vornherein mehr Vertrauen verdienen als andere. Vielmehr muß die textkritische Entscheidung von Fall zu Fall neu erfolgen (lokales Prinzip).

7. Der Grundsatz, daß in jeder Handschrift oder jeder Übersetzung, auch wenn sie allein oder fast allein steht, die ursprüngliche Lesart zu finden sein könne, ist nur in der bloßen Theorie richtig, ein Eklektizismus, der vornehmlich nach dieser Devise verfährt, wird nicht zum ursprünglichen Text des NT, sondern nur zu einer Bestätigung der Vorstellung von dem Text kommen, von der er ausging.

8. Die Herstellung eines Stammbaums der Lesarten bei jeder Variante (genealogisches Prinzip) ist ein überaus wichtiges Hilfsmittel, denn die Lesart, aus der sich die Entstehung der anderen ohne Zwang erklären läßt, ist mit größter Wahrscheinlichkeit die ursprüngliche.

9. Varianten dürfen nicht isoliert behandelt, sondern es muß stets der Kontext der Überlieferung beachtet werden, sonst ist die Gefahr der Konstituierung eines »Textes aus der Retorte«, den es nirgendwann und nirgendwo real gegeben hat, zu groß.

10. Die lectio difficilior ist die lectio potior. Allerdings darf dieses Prinzip nicht mechanisch in Anspruch genommen werden, so daß die lectio difficillima allein wegen ihres Schwierigkeitsgrades als die ursprüngliche gewählt wird.

11. Die alte Maxime: lectio brevior = lectio potior ist in vielen Fällen richtig, darf aber ebenfalls nicht mechanisch angewandt werden. Sie verliert ihr Gewicht ohnehin bei Zeugen, deren Text nicht im Rahmen der sonst zu betrachtenden Gesetze der Textüberlieferung bleibt, sondern ständig infolge der vielfachen Kürzungen bzw. Erweiterungen des Bearbeiters (z.B. Codex Bezae [D]) eigenwillig davon abweicht. Auch die im allgemeinen gültige Faustregel, daß aus Paralleltexten stammende oder ein AT-Zitat dem Septuagintatext anpassende Varianten sekundär sind, darf nicht rein mechanisch angewandt werden. Konsequenzmacherei ist hier genauso gefährlich wie bei den Grundregeln 10 (lectio difficilior) und 11 (lectio brevior).

12. Die ständig erneuerte Erfahrung im Umgang mit der handschriftlichen Überlieferung ist die beste Lehrmeisterin der Textkritik. Wer produktiv an ihr teilnehmen will, sollte vorher mindestens einen großen frühen Papyrus, eine bedeutende Majuskel und eine wichtige Minuskel vollständig kollationiert haben, die reinen Theoretiker haben in der Textkritik oft genug mehr Schaden als Nutzen angerichtet. So sehr der erste Satz der Grundregel 12 auch für den Studierenden gilt, wird niemand für ihn die Gültigkeit ihres zweiten proklamieren. Er gilt nur für den, der produktiv, d. h. aktiv an der Textgestaltung mitwirken will. Immerhin sollte auch dem Studierenden, der die Textkritik rezeptiv treibt, einiges aus diesem Sektor bekannt sein, muß er doch auch für seinen persönlichen Bereich produktiv werden, d.h. sich zur Annahme oder Ablehnung ihm vorgetragener Lösungen - sei es im Studienbetrieb, sei es bei der Lektüre der Kommentare - entscheiden können.

Literatur

Kurt Aland, Der Text des Neuen Testaments - Einführung in die wissenschaftliche Ausgaben und in die Theorie wie Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1989 2



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Ins Netz gesetzt am 15.10.2005; letzte Änderung: 29.12.2016

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