Kritik an der Theologie von Rudolf Bultmann (1884 - 1976)

Zum 125. Geburtstag des Neutestamentlers Rudolf Bultmann

Professor Dr. Dr. Rainer Mayer, Stuttgart [ 1 ]


Mit kirchlichen Festveranstaltungen wurde der Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884-1976) geehrt, der am 20. August vor 125 Jahren geboren wurde.

Die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) hatte 1953 Bultmanns Entmythologisierungsprogramm kritisch bewertet. Es bestehe die Gefahr, „den Inhalt der Verkündigung zu vermindern oder gar zu verlieren“. Nach Angaben der Referentin für theologische Grundsatzfragen, Oberkirchenrätin Mareile Lasogga (Hannover), hat sich aber inzwischen in der VELKD ein Bewusstseinswandel vollzogen. Die kritische Einschätzung der Theologie Bultmanns sei in der VELKD faktisch schon seit langem revidiert worden, so die Oberkirchenrätin (laut IDEA-Spektrum Nr. 35, 2009, S. 8).

Was soll nun gelten? - Zur Klärung hier einige grundlegende Feststellungen:


1. Rudolf Bultmann hat die historische Kritik nicht erfunden, sondern er steht am Ende einer über 150-jährigen Geschichte historisch-kritischer Leben-Jesu-Forschung „Von Reimarus zu Wrede“ (Albert Schweitzer). Deren Ergebnis lautete, dass man von Jesus „eigentlich nichts wissen könne“. Angesichts dieser Situation wollte Bultmann den Glauben nicht zerstören, sondern ihn aus dem Feuer der historischen Kritik herausretten.

2. Das versuchte er dadurch, dass er das Feuer dieser Kritik, wie er sagte, nicht nur „ruhig brennen“ ließ, sondern es sogar anfachte. Den Glauben bezog er auf eine ganz andere Ebene, auf welcher ihm die historische Kritik nichts mehr anhaben sollte. Dazu entwarf er im Gespräch mit dem Philosophen Martin Heidegger das Programm der existentialen Interpretation. Durch die existentiale Interpretation wurden Bibel und Glaube enthistorisiert. Das „Eigentliche“ wurde ins subjektive Existenzverständnis verlagert.

3. Bultmann war um die Wissenschaftlichkeit der Theologie besorgt. Deshalb wollte er nicht hinter die historische Kritik zurück. Die Auseinandersetzung mit der historischen Kritik muss allerdings auf einer ganz anderen Ebene geschehen als der von Bultmann gewählten. Denn die Voraussetzungen der historisch-kritischen Arbeit beruhen auf dem schon damals veralteten Wissenschaftsparadigma der klassischen Physik. Deren These lautete, Naturgesetze seien stetig und die Kausalitätsreihen seien ohne Anfang und Ende, undurchbrechbar und prinzipiell berechenbar. Daher seien z. B. Wunder, so folgerten mit diesem Wissenschaftsbegriff arbeitende Theologen, prinzipiell unmöglich und die neutestamentlichen Wundergeschichten seien von der Gemeinde erfunden worden, um die „Bedeutsamkeit“ Jesu zum Ausdruck zu bringen. Die neuen Erkenntnisse, beginnend mit der Atomphysik ab Anfang des 20. Jahrhunderts erweiterten den naturwissenschaftlichen Horizont aber ganz entscheidend. Während z. B. Karl Heim zu Bultmanns Zeiten das Gespräch mit der modernen Physik führte und auf diese Weise das Verhältnis zwischen biblischem Glauben und moderner Wissenschaft neu auslotete, blieb Bultmann – und mit ihm manch anderer Theologe – dem veralteten Wissenschaftsverständnis verhaftet.

4. Methodisch beschritt Bultmann den Weg der „Entmythologisierung“. Sein Mythos-Begriff lautet: „Vom Unweltlichen weltlich, von den Göttern menschlich reden“. Das aber ist ein Gedankenkonstrukt, welches nur einen kleinen Ausschnitt des Mythos-Phänomens erfasst und wegen seiner Engführung sowohl religionsgeschichtlich als auch literarwissenschaftlich und erst recht theologisch unzureichend ist. Schon Dietrich Bonhoeffer schrieb in seinen Gefängnisbriefen: „Man kann nicht Gott und Wunder voneinander trennen ... Bultmann ... verfällt daher in das typisch liberale Reduktionsverfahren (die ‚mythologischen’ Elemente des Christentums werden abgezogen und das Christentum auf sein ‚Wesen’ reduziert). Ich bin nun der Auffassung, dass vollen Inhalte einschließlich der ‚mythologischen’ Begriffe bestehen bleiben müssen – das Neue Testament ist nicht eine mythologische Einkleidung einer allgemeinen Wahrheit, sondern diese Mythologie (Auferstehung etc.) ist die Sache selbst!“

5. Bultmann hat seine Begriffe nicht zureichend geklärt. In seinem speziellen Mythos-Begriff vermischt er Weltbild (=Vorstellungen vom äußeren Aufbau des Kosmos) und Weltanschauung (=Aussagen über den Sinn des Weltgeschehens). So behauptete er z. B., die Geschichte von Jesu Himmelfahrt sei ein Mythos und somit „erledigt“, weil das Stockwerk-Weltbild der Antike heute nicht mehr gelte. Bei solchem, für seine Argumentationsweise typischen Vorgehen, schließt Bultmann in methodisch unkorrekter Weise von einer Weltbildaussage auf eine Weltanschauungsaussage. Wenn man jedoch von vornherein in rechter Weise zwischen Weltbild und Weltanschauung unterscheidet, ist die Forderung nach Entmythologisierung unnötig und missverständlich. Sie läuft ins Leere.

6. Bultmanns Rettungsversuch ist deshalb misslungen, weil die Bibel die Offenbarung Gottes in der Geschichte bezeugt. Ein enthistorisierter Glaube und eine existentialistisch verengte Sicht auf die Bibel vermögen aber die reale Existenz des Menschen in der Welt nicht mehr zu treffen. Der Glaube wird weltlos. Entsprechend wurde von diesem Ansatz her die Theologenausbildung teilweise so distanziert betrieben, als handele es sich um eine Art Mathematik. Die biblischen Texte wurden gelesen „wie jede andere Literatur auch“. Die Bibel verlor ihren Rang als Maßstab für Glaube und Leben.

7. Über den persönlichen Glauben Bultmanns sollte man kein Urteil fällen. In seinem Drängen auf Entscheidung war er geradezu „pietistisch“. Doch die Konsequenzen seines Entmythologisierungsprogramms waren weithin verheerend. Sie trugen zur Entfremdung zwischen wissenschaftlicher Theologie und Gemeinde bei. Im außerchristlichen Bereich wurden sie als Bestätigung für die Unzuverlässigkeit der Bibel durch führende Theologen interpretiert. Der „moderne Mensch“ wurde – trotz guter Absicht – nicht erreicht, sondern im Gegenteil in seiner Bibelfremdheit und in seinem Unglauben bestätigt.

8. Bultmann gebührt ein Platz in der Theologiegeschichte, nicht mehr und nicht weniger. Aber sein Denken ist überholt. Es ist auch unzureichend, seine Theologie nur als ergänzungsbedürftig zu bezeichnen, wie es häufig behauptet wird und im Mai dieses Jahres im Blick auf die historisch-kritische Forschung durch eine Theologenkonferenz geschah (Informationsbrief Nr. 256, Oktober 2009, S. 29). Dieser Ansatz, so heißt es, sei zu erweitern um Aspekte der politischen oder der feministischen Theologie oder durch psychologische Auslegung usw. Dadurch wird jedoch alles nur verschlimmert: Denn wo die Grundlagen nicht stimmen, wird durch Erweiterungen nichts verbessert. Im Gegenteil, ein Haus, das auf nicht tragfähigen Fundamenten errichtet wurde, wird durch Anbauten umso schneller einstürzen.

9. Das genaue Hinsehen auf die Texte sollte man allerdings von Bultmann lernen. Ein „Drüberhinweghudeln“, wie es heute oft geschieht, ließ er nicht zu. Er lehrte u. a., die literarischen Formen genau zu beachten. Dennoch ist das heutzutage verbreitete „Drüberhinweghudeln“ auch eine Fernwirkung seiner Verfahrensweise. Da heißt es leichthin, dies oder jenes sei „nur zeitbedingt“, und schon ist damit eine biblische Aussage beiseite geschoben und für gleichgültig erklärt, „erledigt“, wie Bultmann das nannte. In der Tat gibt es zeitbezogene Aussagen in der Bibel. Doch „zeitbezogen“ ist etwas völlig anderes als „nur zeitbedingt“ und damit „erledigt“. Es gilt, die zeitbezogenen Aussagen der Bibel daraufhin zu prüfen, was sie den Hörern damals zu sagen hatten und sie demgemäß neu in unsere Zeit und Situation hinein sprechen zu lassen.

10. Wir lernen: Nicht wir sind Meister der Schrift, sondern die Heilige Schrift soll unser Meister sein. Das Urvertrauen zur Bibel können wir von Martin Luther lernen, der als großer Bibeltheologe in seinen letzten Worten bezeugte: „Die Heilige Schrift meine niemand hinreichend verstanden zu haben, er habe denn hundert Jahre lang mit den Propheten die Gemeinden regiert. Du lege nicht die Hand an diese göttliche Aenaeis, sondern tief anbetend gehe ihren Fußstapfen nach.“ Um unsere Weisheit und Wissenschaftlichkeit können wir, wenn wir uns daran halten, ganz unbesorgt sein (1.Kor 1,25).


[ 1 ] Der Autor, Prof. em. Dr. Dr. Rainer Mayer, Stuttgart, lehrte zuletzt als Professor für systematische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Mannheim.



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Ins Netz gesetzt am 17.12.2009; letzte Änderung: 27.04.2016

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