Kommentar zur Orientierungshilfe der EKD"Mit Spannungen leben”Hans-Jürgen PetersAm 26.2.1996 wurde die Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema "Homosexualität und Kirche” (EKD-Texte 57) der Öffentlichkeit übergeben. Wie alle EKD-Papiere hat auch diese Orientierungshilfe keine lehrmäßig verbindliche oder kirchenrechtliche Bedeutung, so daß Verantwortliche in Theologie und Kirche nicht auf sie behaftet werden können. Andererseits muß man sich jedoch vor Augen halten, daß es so etwas wie ein "verbindliches kirchliches Lehramt” aller evangelischen Kirchen nicht gibt, so daß Texte dieser Art doch so etwas wie einen quasi-offiziellen Charakter bekommen. An die Stelle einer verbindlichen Lehrentscheidung ist weithin der "tragfähige Konsens” getreten. Und es ist durchaus der Wunsch und die Hoffnung des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Dr. KLAUS ENGELHARDT, daß sich das vorliegende Ergebnis in der kirchlichen wie auch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit "als Basis für einen tragfähigen Konsens erweisen” werde (Vorwort. S.4). Die EKD-Orientierungshilfe hat bereits jetzt - trotz mancherlei Kritik von vielen Seiten - eine große Öffentlichkeitswirksamkeit und wird vermutlich einen festen Orientierungspunkt in den kommenden Debatten und Veröffentlichungen der kirchlichen und theologischen Landschaft bilden. Der folgende Kommentar geht der Orientierungshilfe entlang. Dabei wird nicht der gesamte - durchaus lesenswerte - Text kommentiert, sondern es werden einige als relevant erscheinende Aussagen herausgegriffen, um an ihnen sowohl die positive Bedeutung des Textes als auch seine neuralgischen Punkte deutlich zu machen. Der Kommentar versteht sich nicht als Beitrag zu allen wichtigen Aspekten der gegenwärtig geführten Diskussion, sondern als "Lese- und Beurteilungshilfe” für die eigene kritische Auseinandersetzung mit dieser Orientierungshilfe. Es werden daher im folgenden bisweilen nur kurze Hinweise gegeben bzw. Fragen zum weiteren Nachdenken gestellt. Um den Textbezug möglichst eindeutig herzustellen, ohne ausführlich zitieren
zu müssen, nenne ich an erster Stelle den Gliederungspunkt, an zweiter Stelle
die Nummer des Absatzes unter diesem Gliederungspunkt und an dritter Stelle die
Seitenzahl des Originals (EKD-Texte 57). 1.1/1/6Der erste Abschnitt beinhaltet ein Schuldeingeständnis. Es ist sicherlich angemessen, zu Anfang das geistige Klima zu benennen, von dem die gegenwärtige Diskussion (mit) geprägt ist. Es gehört jedoch zu den hervorstechenden Kennzeichen der tiefgreifenden geistigen und theologischen Umwälzungen (insbes. nach dem 2. Weltkrieg), daß sie mit einem schlechten Gewissen bzw. mit einem (kollektiven) Schuldbekenntnis eingeleitet werden. Durch Schuldeingeständnisse scheint sich die Kirche in einer Lage zunehmender Entkirchlichung das Recht zu erwerben, weiterhin an der öffentlichen Diskussion teilzunehmen und in ihr gehört zu werden. Abgesehen von der Frage, ob ein solches Schuldeingeständnis (teilweise) berechtigt ist oder nicht, begegnen wir an dieser Stelle einem ernst zu nehmenden Hinweis auf eine Veränderung des geistigen Klimas im Thema "Homosexualität und Kirche”. 1.1/3/7Bei der Aufzählung der gegensätzlichen Positionen zur
Homosexualität fällt auf, daß die Ablehnung der Homosexualität durch den
wertenden Hinweis ergänzt wird, sie könne "mit einem ungeklärten Verhältnis
zur eigenen Sexualität zu tun haben”. Man wird nicht in Frage stellen
wollen, daß das möglich ist. Man fragt sich jedoch umgekehrt: Steht hinter der
"verstärkten Akzeptanz homosexueller Menschen” in unserer Gesellschaft
nicht möglicherweise auch ein ungeklärtes Verhältnis zur eigenen
Sexualität? Sind die zu beobachtende zunehmende Einebnung der
Geschlechtsunterschiede (z.B. "Unisex” in Kleidung und Haartracht, Travestie als
unterhaltsamer "Karneval der Geschlechter”) und die anwachsende
Rollenunsicherheit nicht möglicherweise Zeichen dafür, daß es heute schwerer
geworden ist, die eigene geschlechtliche Identität im Gegenüber zum anderen
Geschlecht zu finden? Und sind davon nicht vor allem manche Männer betroffen,
die sich gegenüber dem stärker und z.T. übermächtig gewordenen anderen
Geschlecht der Frauen oft kaum noch behaupten können? Welche Auswirkungen auf
die geschlechtliche Identitätsfindung hat die Tatsache, daß wir (u.a. durch
häufigere Scheidungen) immer mehr auf eine "vaterlose Gesellschaft” zugehen?
1.1/4/7Noch ein kleiner sprachlicher Hinweis: Es heißt, daß das gelegentlich in schrillen Formen erfolgende "coming-out” von Homosexuellen Vorurteile verstärkt und neue Hürden aufbaut. Es wäre ja auch die Formulierung denkbar gewesen, daß ein solches Verhalten negative Reaktionen hervorruft und Menschen mit einer ablehnenden Haltung zur öffentlichen Artikulation herausfordert. Das Wort "Vorurteil” legt nahe, daß eine ablehnende Haltung (möglicherweise? vermutlich? wahrscheinlich?) überhaupt nicht begründet ist. 1.2/8/9Den Autoren der Orientierungshilfe liegt viel daran, daß das Thema "Homosexualität und Kirche” entdramatisiert wird und in dieser Frage nicht etwa der status confessionis ausgerufen wird. Das Thema scheint für sie überstrapaziert zu werden, wenn es so diskutiert wird, daß darin die Frage der Kircheneinheit auf dem Spiel steht. Das aber ist momentan durchaus der Fall. Die Kirchenleitungen wissen das sehr gut und schlagen in der Regel zur Zeit vorsichtigere Töne an. Der status confessionis kann mitunter an scheinbar kleinen Äußerlichkeiten zum Tragen kommen, an denen aber wichtige dogmatische Grundentscheidungen zum Ausdruck kommen. In der Argumentation wird hier im Grunde ein Schritt ausgelassen: nicht die Frage der Homosexualität ist der sog. "status confessionis” (immerhin geht es aber auch hier um eine Frage der Seligkeit! - I Kor 6,9-11), sondern der Umgang mit der Heiligen Schrift. Es geht nicht nur um die Frage, wie christliche Gemeinden im Einzelfall mit homosexuellen Menschen bzw. Mitarbeitern in der Gemeinde umgeht. Es geht auch nicht nur darum, wie sich einzelne Theologen, Pfarrer oder Bischöfe zu diesem Thema äußern. Es geht vielmehr um die Frage, ob sich eine Kirche insgesamt und auf allen relevanten Gebieten (Synodenbeschlüsse, Pfarrerdienstrecht, Lebensordnung, Gottesdienstordnung etc.) gegen eindeutige Aussagen der Heiligen Schrift stellt oder nicht. Die Stellung zur Bibel ist keine Randfrage, die mit hermeneutischen Vorüberlegungen entschärft werden könnte. An ihr entscheidet sich, ob Kirche Kirche ist oder nicht. Für Kirchen, die sich - wie die reformatorischen Kirchen - mit starkem Nachdruck (allein) an die Schrift gebunden hat, ist die Frage nach der Stellung zur Schrift insbesondere eine Frage, die den status confessionis betrifft. An dieser Stelle wäre die von den Autoren gewünschte "Entdramatisierung” des Problems ein Indiz für eine höchst dramatische Entwicklung. Im übrigen würde die erhoffte Entdramatisierung in einer Frage, die im Grunde den status confessionis betrifft, sich nicht "in dem Maße einstellen, wie die an der Auseinandersetzung beteiligten Gruppen den Eindruck gewinnen, daß ihre theologisch berechtigten Anliegen ... seitens der Kirchenleitungen bei ihrer Urteilsbildung und ihren Entscheidungen anerkannt und ernstgenommen werden”. In einer solchen Frage geht es nicht um das Gefühl, gehört und ernstgenommen zu sein, auch nicht um die Suche nach einem tragfähigen Konsens, sondern um eine Entscheidung, die das Fundament des christlichen Glaubens und damit das Wesen der Kirche betrifft. 1.3.1/8/10Homosexualität wurde aus dem Handbuch der WHO (World Health Organization) als Krankheit gestrichen mit dem Argument, daß sich keinerlei Anomalie - weder in genetischer noch in hormoneller Hinsicht - gegenüber den heterosexuellen Menschen feststellen lasse. Die Auffassung, daß Homosexualität nicht therapiert werden müsse oder sich sogar nicht therapieren lasse, wird also mit einem Argument begründet, daß eher dafür spricht, daß es sich bei der homosexuellen Orientierung nicht um eine genetische oder hormonelle Festlegung und auch nicht einmal um eine Disposition dieser Art handelt. Die Entscheidung der WHO wird von Vertretern homosexueller Organisationen in der Regel begrüßt. Andererseits wird aber - oft von denselben Leuten - gerne der Hinweis auf eine genetische Festlegung von Homosexualität gegeben als Argument für die Unveränderbarkeit und "Natürlichkeit” der homosexuellen Orientierung. Die Argumente scheinen auf diesem Gebiet fast austauschbar zu sein. Was sich deutlich geändert hat - und darin ist der Orientierungshilfe zuzustimmen - ist die allgemeine gesellschaftliche Stimmung in diesen Fragen. Untersuchungen und Überlegungen zur psychosozialen Verursachung von Homosexualität liegen momentan nicht im Trend. Die Streichung von Homosexualität aus der Krankenliste der WHO ist eher ein Indiz für den vollzogenen gesellschaftlichen Wandel in der Beurteilung von Homosexualität als ein Indiz für neuere wissenschaftliche Erkenntnisse auf diesem Gebiet. 2.1/1/14Von der Bibel wird gesagt, daß sie vom Geist Gottes bestimmt und durchdrungen ist. Es wird also nicht der - weithin üblich gewordene - Versuch gemacht, die Texte der Bibel als menschliche Rede in ihrer historischen Bedingtheit und Relativität zu qualifizieren. Dennoch: man muß hier genau lesen. Die Bibel wird nicht verstanden als das Wort Gottes (der Grund, auf dem wir stehen, ist Jesus Christus), sondern sie ist vom Geist Gottes bestimmt und durchdrungen. Was als die Willenskundgabe Gottes für uns gilt, liegt nicht in der Bibel vor, sondern muß in ihr gesucht werden. Diese Sicht stellt vor die Aufgabe, zwischen Mitte und Rand, Zentrum und Peripherie zu unterscheiden. 2.1/2/14Die Berufung auf Luthers Rede von der "Mitte der Schrift” und auf sein - hier nicht ausdrücklich erwähntes, aber gemeintes - Kriterium dessen, "was Christum treibet”, geschieht zu Unrecht. In seiner Vorrede etwa zum Jakobusbrief unterscheidet Luther zwischen solchen Schriften, die mit Recht kanonisch sind, also zum festen Bestand der Heiligen Schrift gehören und solchen, bei denen er sich nicht sicher ist. Von der Mitte der Schrift her gewichtet er nicht deren Ränder, sondern beurteilt die für ihn nicht geklärte Frage, welche Schriften (der traditionellen lateinischen Bibel seiner Zeit) zum Kanon gehören und welche nicht. Dieser Hinweis ist insofern bedeutsam, als wir es bei Luther an dieser Stelle nicht mit einem Wertmaßstab zu tun haben, mit dessen Hilfe innerhalb der Schrift gewertet wird. Das Kriterium "Mitte der Schrift” oder "was Christum treibet” ist für ihn ein Unterscheidungsmerkmal, mit dessen Hilfe die Grenzen des Kanons festgelegt werden. Innerhalb der Grenzen des Kanons der Heiligen Schriften hat er eine solche Beurteilung und Unterscheidung, wie sie in diesem Papier - unter Berufung auf Luther - als "sachgemäß” vorausgesetzt wird, nicht vorgenommen. Luther rechnet nicht - wie die Autoren der Orientierungshilfe - mit der Möglichkeit, biblische (d.h. kanonische) Texte von der Mitte der Schrift aus zu tadeln, sondern lediglich mit der Möglichkeit, außerkanonische Schriften von der Mitte der Schrift aus zu "tadeln”. Die von Luther durchgeführte Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium hat nichts mit der Unterscheidung zwischen "zentralen” und "weniger zentralen” Aussagen in der Heiligen Schrift zu tun, sondern ordnet verschiedene Schriftaussagen in einer bestimmten Aussage aufeinander zu. Das Gesetz ist nicht weniger wichtig als das Evangelium. Es von anderer Qualität bzw. hat eine andere Funktion. Die abweisenden Aussagen der Schrift zur Homosexualität gehören zum Gesetz, sind aber als solche nicht unwichtig, sondern gerade zur Geltung zu bringen. 2.2/3/16Es ist zu begrüßen, daß hier vom anthropologischen Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift her die falsche und vernebelnde Rede von der homosexuellen Orientierung als einer "Schöpfungsvariante” abgewiesen wird. Allerdings beschreiben demgegenüber die beiden Begriffe "Begrenzungen” und "Einschränkungen” nur unzureichend das, was die Bibel über Homosexualität sagt. Homosexualität wird eindeutig abgelehnt und nicht in seiner Begrenzung und Einschränkung lediglich relativiert. 2.3/6/17Es ist von großer Bedeutung für das künftige Gespräch, daß von der Orientierungshilfe zwei wichtige Argumente, die in der gegenwärtigen Diskussion immer wieder eine wichtige Rolle bei der Relativierung oder Neutralisierung der biblischen Aussagen zur Homosexualität gespielt haben, deutlich relativiert bzw. abgewiesen werden. 2.3/10/19Der wichtige Gedanke der "Vertauschung” wird in
dankenswerter Klarheit herausgearbeitet: "Die Vertauschung von Schöpfer und
Geschöpf zieht (als eine Folge) die Vertauschung der Geschlechter nach sich ...
der Mensch, der sich von Gott als seinem Schöpfer abwendet, um seinesgleichen zu
vergötzen und anzubeten”, ist möglicherweise "auch in sexueller Hinsicht
auf seinesgleichen ausgerichtet” und verliert "die Ausrichtung auf das
andere Geschlecht”. Diese wichtige Einsicht wird jedoch im folgenden wieder
ein Stück weit relativiert durch den sachlich nicht zum Thema gehörenden Hinweis
darauf, daß die Verschlossenheit gegenüber dem Nächsten noch schwerer wiegt als
die Verschlossenheit gegenüber dem anderen Geschlecht. Dieser Gedanke mag zu
Recht eine selbstgerechte Verurteilung homosexueller Verhaltensweisen abwehren,
suggeriert aber zugleich, daß die Vertauschung der Geschlechter nicht gar so
schlimm ist,- als wenn eine Sünde durch eine noch schlimmere relativiert werden
könnte. Die Verstricktheit in Sünde ist doch in beiden Fällen die entscheidende
Pointe, auf die es Paulus ankommt, worauf im folgenden Satz des Papiers
ebenfalls hingewiesen wird. 2.3/18/22Die Unterscheidung zwischen Homosexualität, die dem
Willen Gottes widerspricht, und der Frage nach der ethisch
verantwortlichen Gestaltung einer homosexuellen Beziehung ist eine der
Nahtstellen des EKD-Textes. Die Unterscheidung macht es möglich, einerseits an
den eindeutigen Aussagen der Bibel zum Thema festzuhalten, ohne sie im Interesse
einer gewünschten neuen Sichtweise zu relativieren. Andererseits ermöglicht sie
den Autoren, darüber hinaus nach einer ethisch verantwortlichen Gestaltung von
homosexuellen Partnerschaften zu fragen, über die in der Bibel nichts gesagt
wird und über die folglich erst noch ein ethisches Urteil gefunden werden muß.
Obwohl nach dem Zeugnis der Bibel Homosexualität dem Willen Gottes widerspricht,
wird in dem Papier also darüber nachgedacht, wie eine ethisch verantwortliche
Gestaltung einer homosexuellen Beziehung aussehen könnte. Dahinter steht der
doppelte Gedanke: a) Homosexualität entspricht zwar nicht dem Willen Gottes; b)
aber wenn Menschen schon homosexuell zusammenleben, dann sollen sie dies ethisch
verantwortlich tun, also z.B. in einer verläßlichen Partnerschaft, die den
anderen auch im Leid nicht aufgibt oder z.B. in einer festen Partnerschaft, in
der es keine wechselnden Partner gibt. Wie beim "Scheidebrief” (Mt 19,8) wird
nach einer verantwortlichen Gestaltung einer Situation gefragt, die ursprünglich
nicht nach dem Willen Gottes ist. Jenseits der biblischen Ablehnung von
Homosexualität beginnt folglich nicht das Chaos, sondern Homosexualität kann so
oder so gelebt werden, und das macht - je nachdem - einen großen Unterschied. Es
ist also besser, eine homosexuelle Partnerschaft ethisch verantwortlich als
ethisch unverantwortlich zu leben. 3.1.2/7/25Der Hinweise auf die Bekenntnisschriften soll der Forderung Rechnung tragen, daß sich Leben und Handeln der evangelischen Kirche und der evangelischen Christen auf Schrift und Bekenntnis gründen müssen. Gleichzeitig eröffnet den Autoren der Hinweis auf die Aussagen der Bekenntnisschriften zur Ehelosigkeit die Möglichkeit, über Lebensformen außerhalb von Ehe und Familie nachzudenken. Für die Bekenntnisschriften wie für die Bibel gibt es nur die Alternative Ehe oder Ehelosigkeit, wobei Ehelosigkeit immer mit sexueller Enthaltsamkeit verbunden ist. Gleichzeitig werden aber Ehelosigkeit und die damit verbundene sexuelle Enthaltsamkeit frei gewählt. Hier scheint nun für die Autoren eine "Lücke” zu entstehen, die sie im folgenden für ihre Argumentation nutzen: Was ist mit denen, die eine sexuelle Enthaltsamkeit für sich nicht gewählt haben, weil sie dafür nicht "berufen” sind, also kein "Charisma” dazu haben, andererseits aber auch nicht zur Ehe tauglich sind, wie das bei homosexuell orientierten Menschen der Fall ist? Es wird hier im Grunde die - der Bibel und den Bekenntnisschriften fremde - Frage nach einer Form der Ehelosigkeit gestellt, in der die sexuelle Enthaltsamkeit nicht frei gewählt ist. Die Alternative "Ehe oder Ehelosigkeit” wird so zu Gunsten einer dritten Möglichkeit aufgegeben, die möglicherweise einen Ausweg aus dem Dilemma eröffnet. 3.3/5/31In der Orientierungshilfe wird an dem Leitbild von Ehe und Familie ausdrücklich festgehalten und damit die These von der "Gleichrangigkeit aller Formen des Zusammenlebens” begründet aufgegeben (3.2.2/9/30). Das zentrale Kriterium ist dabei "die Lebensdienlichkeit im Blick auf die nachwachsenden Genrationen sowie im Blick auf Alte, Kranke und Behinderte” - ein Kriterium, das in manchen evangelischen Verlautbarungen zur Sexualität in der Vergangenheit eine eher nachgeordnete Rolle gespielt hat. 3.5/5/35Abgesehen von der Frage, ob es "eindeutig und
unveränderbar homosexuell geprägte Menschen” gibt, stellt sich die
Frage: Woher und wann weiß ein homosexuell empfindender Mensch, daß er dies
eindeutig und unveränderbar ist? Wie ist diese Frage insbesondere in einer Zeit
zu beantworten, in der junge Menschen früher beginnen, sich sexuell zu
betätigen, gleichzeitig aber offensichtlich länger brauchen, ihre personale und
geschlechtliche Identität als Mann/Frau, Vater/Mutter zu finden und sie zu
akzeptieren? Bei den heute zu beobachtenden fließenden Übergängen zwischen den
Geschlechtern ist es die seelsorgerliche Aufgabe der Kirche, homosexuell
empfindenden Menschen Mut zu machen, ihre dem Willen Gottes widersprechende
Orientierung nicht als unveränderliches Schicksal festzuschreiben bzw.
festschreiben zu lassen. Der "Eindeutigkeit” der Sünde ist die freimachende
Botschaft von der Veränderung und Neuorientierung in Jesus Christus
entgegenzustellen. Auch wenn der Weg zu einer Veränderung der sexuellen
Grundorientierung nicht gangbar erscheint, kann im Evangelium ein Weg gewiesen
werden, der zu einem geduldigen Tragen der inneren Spannung einlädt. 3.5/6/35Der Abschnitt 3.5 nimmt das bei der Behandlung der
Bekenntnisschriften (3.1.2) angedeutete Vorhaben auf, nach etwas Drittem
zu suchen, nach einer Form des Zusammenlebens, die neben der Alternative "Ehe
oder Ehelosigkeit” bestehen kann. Es wird gefragt nach einer Möglichkeit für
Menschen, die zu den "Wenigen” gehören, die nicht zur Ehe "geschaffen” sind,
sich aber nicht der sexuellen Enthaltsamkeit verpflichtet fühlen. Diesen dritten
Weg sehen die Autoren in einer "ethisch verantworteten gleichgeschlechtlichen
Lebensgemeinschaft”. Dem Einwand, daß damit ja auch alle anderen Formen
nichtehelicher Beziehungen gerechtfertigt werden könnten, begegnen die Autoren
mit dem Argument, daß heterosexuell empfindenden Mensch jederzeit der Weg in die
Ehe offen stehe, dieser "Ausweg” aber den homosexuell empfindenden Menschen
versagt ist. 4.1/4/37In Analogie zum vorangehenden Abschnitt wäre zu ergänzen: Festlegungsversuche behindern oder verhindern die notwendige Veränderung und Umorientierung, die zur Annahme des Willens Gottes für das eigene Leben führt. 4.1/6/38Der Verzicht auf unnötige Schärfe und ein "Mehr” an Sachlichkeit wären sicherlich ein Ausdruck der Liebe in der gebotenen Diskussion. Es ist aber nicht auszuschließen, daß eine gewisse "Schärfe” der Tragweite des Themas "sachlich” angemessen ist. Auf den um der Wahrheit willen notwendigen Streit - bei dem auch der menschliche Konsens der Kirchenmitglieder nicht der oberste Wert sein kann - zu verzichten, wäre dann durchaus "unsachlich”. 4.1/9/39Es wäre wichtig, daß homosexuell empfindenden Menschen Hilfen dafür geboten werden, ihre Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung im Licht des Wortes Gottes zu beurteilen und - wenn nötig - korrigieren zu lassen. Statt dessen treten die Autoren dieser Orientierungshilfe dafür ein, daß deren Selbstwahrnehmung als "Gewissensentscheidung” akzeptiert und geschützt wird. Aber geht es hier eigentlich um die Freiheit von Gewissensentscheidungen? Ist nicht vielmehr die Frage nach der Gewissensbindung vordringlich? Wie kann das Gewissen recht entscheiden, wenn es nicht mehr eindeutig an Gottes Gebote und Ordnungen gebunden ist? Wie können Gewissen durch den Geist Gottes geschärft werden, wenn eine "Orientierungshilfe” ein Denkmodell lehrt, nach dem es möglich ist, trotz erkannter eindeutig negativer Wertung der Homosexualität in der Heiligen Schrift nach einem Weg zu fragen, wie homosexuelle Lebensgemeinschaften ethisch verantwortlich gelebt werden können? Der gegenwärtige Streit um die Beurteilung des Problems "Homosexuelle und Kirche” ist nicht so sehr ein Streit um unterschiedliche Gewissensentscheidungen, sondern ein Streit um unterschiedliche Gewissensbindungen. Nicht die Freiheit der Gewissen steht zur Zeit in Frage, sondern die Bindung der Kirche an die Heilige Schrift. 5.1/4/41Es wird zu Recht festgestellt: "die Lebensführung jedes Amtsträgers bleibt in irgendeiner Form hinter dem zurück, was als Wille Gottes zu verkündigen ist”. Das "Zurückbleiben hinter dem Willen Gottes” wird in der Bibel "Sünde” genannt. Jeder Mensch ist Sünder. Es kommt aber darauf an, daß sich ein Christ - und so auch der Amtsträger - darüber im klaren ist, daß er in dem, wo er hinter dem Willen Gottes zurückbleibt, in der Sünde lebt und daß er dazu bereit ist, sich mit Worten (Sündenbekenntnis) und Taten (Heiligung) davon zu distanzieren. Er wird nicht etwas "ethisch verantwortlich” leben können, das die Bibel Sünde nennt. Nicht die Frage, ob jemand sündigt, sondern die Frage, ob er sein Tun als Sünde beurteilt, entscheidet darüber, ob er als Christ glaubwürdig bleibt oder nicht. Wie kann ein Christ durch eine bewußte und bejahende Entscheidung eine homosexuelle Beziehung leben und gleichzeitig vertreten, daß er darin - wie jeder - hinter dem Willen Gottes zurückbleibt, also sündigt? Ist die vorliegende "Orientierungshilfe” so zu verstehen, daß sie homosexuelle Amtsträger dazu ermutigt, mit dem Instrumentarium ihrer Unterscheidungen dieses "Kunststück” zu vollbringen? 5.1/10/42Die Selbstthematisierungstendenz homosexuell lebender
Menschen - vor allem durch die Organisationen, in denen sie z.T. vertreten sind
- ist sicher auch auf dem Hintergrund von gesellschaftlichen Diffamierungen
und Ausgrenzungen zu sehen. Aber sind diese Ausgrenzungen der eigentliche
Grund für die z.Z. stattfindende Offensive? Und ist die gesellschaftliche
Ablehnung von Homosexualität die eigentliche Ursache für die inneren Spannungen,
die Homosexuelle in sich empfinden? Es wäre m.E. nötig, an dieser Stelle weitere
Faktoren zu nennen und stärker zu differenzieren. Wird sich darüber hinaus das
vorhandene Problem normalisieren, wenn auf Ausgrenzungen, d.h. auch auf negative
Wertungen jeglicher Art, verzichtet wird? 5.1/11/43In der Strategie einiger nicht-kirchlicher Interessengruppen von Homosexuellen wird die evangelische Kirche als der Ort angesehen, an dem zur Zeit die gewünschten Veränderungen am ehesten erzielt werden können. Obendrein würden von dort dann auch die intendierten gesellschaftlichen Veränderungen unaufhaltsam folgen. Wenn selbst die Kirchen in dieser Frage kein Veto mehr einlegen,- welche gesellschaftliche Gruppierungen sollte es dann tun? Angesichts der abnehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz der Autorität der Kirchen wird von den Kirchen an dieser Stelle eine erstaunliche Katalysatorwirkung erwartet. 5.2.1/3/44Man kann ahnen, welch unseligen Verhören durch den Satz, daß
niemand einen Anspruch darauf hat, "über das Sexualleben eines Amtsinhabers
Auskunft zu verlangen oder dies auszuforschen”, ein Riegel vorgeschoben
werden soll. Bewerbungsgespräche dürfen nicht dazu mißbraucht werden, im
Privatleben von Pastoren herumzuschnüffeln. [Nebenbei: wie könnte man
diese Einsicht für die gruppendynamischen Gesprächseinheiten in
Predigerseminaren oder praktisch-theologischen Seminaren fruchtbar werden
lassen?] 5.2.2/3/45In großer Eindeutigkeit wird in dem Papier an der
"Leitbildfunktion von Ehe und Familie” festgehalten. Das ist zu begrüßen.
In diesem Zusammenhang wird auch entschieden die Euphorie des Aufbruchs
homosexueller Organisationen gebremst. Homosexuelle Pfarrer sollen die
"Begrenztheit” ihrer Form der sexuellen Beziehungen erkennen und sich
öffentlich für das Leitbild Ehe und Familie einsetzen. Außerdem wird von ihnen
erwartet, daß sie die Bekenntnis- und Lehrgrundlagen ihrer Kirche anerkennen und
öffentlich für sie eintreten. 5.2.3/3/46Alle beteiligten Gremien sollen einmütig ihre Entscheidung fällen. Man will also zur Zeit von Seiten der Kirchenleitungen keine Veränderungen über's Knie brechen. Es wird auf das Gewissen der Zögerlichen oder Andersdenkenden Rücksicht genommen. Andererseits wird deutlich, daß es in diesen Entscheidungen für die Autoren des EKD-Papiers nicht mehr um Lehrfragen geht, sondern um Fragen der (sich ändernden) Akzeptanz in den Gemeinden und in den entsprechenden Gremien. Es wird pragmatisch entschieden. Denn Lehrentscheidungen kommen in der Regel nicht durch Mehrheitsbeschlüsse - und seien sie einmütig - zustande. 5.3/5/48Das Papier der Kommission spricht sich eindeutig "gegen
eine Zulassung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in
Pfarrhäusern” aus. Soll man sagen: noch? Denn das Argument für die
nächste Stufe in der bevorstehenden Entwicklung ist bereits in das Papier
aufgenommen: "eine verantwortlich gestaltete gleichgeschlechtliche
Lebensgemeinschaft im Pfarrhaus” würde "vermutlich eine positive Funktion
für homosexuell geprägte Menschen haben”. Noch hebt das die vorgebrachten
Bedenken und Einwände nicht auf, die vor allem die (im Abnehmen begriffene)
Vorbildfunktion des Pfarrhauses sowie die Befürchtungen von Gemeindegliedern
gegenüber einer möglichen "Verführung zur Homosexualität” zum Gegenstand
haben. Wenn aber einmal die allgemeine Akzeptanz gegenüber homosexuellen
Partnerschaften größer geworden sein wird und wenn einmal solche Beziehungen von
Seiten des Staates in vieler Hinsicht einer Ehe gleichgestellt worden sein
werden (womit in absehbarer Zeit durchaus zu rechnen ist), werden Bedenken
dieser Art nicht mehr aufrechterhalten werden können. 6.3/7/54Die Verfasser der Orientierungshilfe bemühen sich darum,
deutlich zu machen, daß das biblische Leitbild von Ehe und Familie in keinem
Fall - auch nicht durch Segenshandlungen an Homosexuellen - aufgegeben
oder in Frage gestellt werden darf. Es darf unter keinen Umständen der Eindruck
entstehen, als wäre eine homosexuelle Beziehung in irgendeiner Form der Ehe
gleichzustellen. Daher wird auch jede Form einer öffentlichen Segnung,
insbesondere im Rahmen eines Gottesdienstes abgelehnt. Den Wünschen, die in
dieser Richtung von Organisationen homosexueller Menschen immer wieder
vorgebracht wurden, ist nicht entsprochen worden. Wer sich durch eine Segnung
seiner homosexuellen Beziehung eine öffentliche kirchliche Akzeptanz seiner
Lebensform erhoffte, wird diese Bestätigung nach dem Vorschlag der Kommission
nicht erhalten können. Abschließende WürdigungDie Orientierungshilfe der EKD ist ein bedeutsamer Beitrag in der gegenwärtigen Diskussion um das Thema "Homosexualität und Kirche”. Sie ist - zum Ärger vieler, die sich weitergehendere Veränderungen erhoffen - relativ konservativ und zurückhaltend in ihren Reformvorschlägen. Sie unterstreicht unmißverständlich, daß Homosexualität nicht nach dem Willen Gottes ist. Sie vermeidet diejenigen kurzschlüssigen Argumentationen, mit deren Hilfe man sonst die biblischen Aussagen gerne relativieren oder für unsere gegenwärtige Situation als nicht relevant erscheinen lassen möchte. Sie hält am biblischen Leitbild von Ehe und Familie fest, demgegenüber Homosexualität in ihrer deutlichen Begrenzung und Einschränkung erkennbar wird. Sie verwirft die These von der Gleichwertigkeit aller Lebens- und Partnerschaftsformen und lehnt eine öffentliche Segnung homosexueller Partnerschaften ab. Und dennoch macht sich die Orientierungshilfe auf den Weg, trotz allem nach einer ethisch verantwortlichen Form einer homosexuellen Partnerschaft zu suchen. Dabei bemüht man sich im Vergleich zu anderen Veröffentlichungen zum Thema nicht darum, homosexuelle Partnerschaften notfalls auch gegen das Schriftzeugnis zu rechtfertigen. Hier wird erstmals der Versuch unternommen, ein - unter vielen Vorbehalten stehendes - "Ja” zu einer "verantwortlich gelebten homosexuellen Partnerschaft” auf dem Boden von Schrift und Bekenntnis zu begründen. Eine klare Ablehnung der Homosexualität in der Schrift bildet dafür offenbar keinen ernsthaften Hinderungsgrund. Damit aber wird ein Argumentationsmuster und ein Umgang mit der Heiligen Schrift eingeübt, der weitreichende Folgen haben könnte. Wenn sich diese Art zu denken und zu argumentieren durchsetzt, wird es in Zukunft möglich sein, auch in anderen Fragen, mit denen die Kirche konfrontiert ist, trotz eindeutiger Verbote und Weisungen in der Heiligen Schrift nach einer Möglichkeit zu suchen, verantwortlich mit dem umzugehen, was die Bibel als Sünde bezeichnet. Das Neue an dieser Hermeneutik ist nicht, daß die Kirche in die Lage versetzt wird, biblische Gebote und Ordnungen Gottes zu übergehen bzw. Verständnis und Toleranz denen gegenüber walten zu lassen, die dem Willen Gottes entgegenstehen. Das Neue ist, daß es mit Hilfe des vorliegenden Argumentationsmusters möglich ist, diese Haltung in scheinbarer "Übereinstimmung mit Schrift und Bekenntnis” zu begründen. Damit wäre einer möglichen Infragestellung solcher Verhaltensweisen durch die Frage, ob sie sich mit Schrift und Bekenntnis vereinbaren lassen, von vornherein der Wind aus den Segeln genommen. Genau dieses "Kunststück” wird künftig von Pfarrern erwartet, die in homosexuellen Partnerschaften leben. Sie sollen dazu in der Lage sein, eine Lebensweise, von der sie wissen, daß sie von der Bibel ausdrücklich als Sünde bezeichnet wird, so zu begründen, daß dabei weder die Autorität der Schrift noch die der Bekenntnisse in Frage gestellt ist. Die Autoren fordern von solchen Pfarrern oder Pfarrerinnen geradezu die Übereinstimmung mit Schrift und Bekenntnis. So sehr das Anliegen der Autoren zu begrüßen ist, Schrift und Bekenntnisse ernst zu nehmen, so sehr ist doch zu fragen, ob im Rahmen einer so gestalteten Argumentation Schrift und Bekenntnis überhaupt noch die Möglichkeit gegeben wird, sich durchzusetzen und in Geltung zu bringen. Welche verheerende Logik steckt dahinter, in der es möglich ist, eine Handlungsweise, die von der Schrift eindeutig abgelehnt wird, so zu gestalten, daß sie in Übereinstimmung mit derselben Schrift zu stehen scheint? Sollte es in Zukunft generell möglich sein, nach einer christlich-ethischen Gestaltung von Dingen zu fragen, von denen man weiß, daß sie nicht nach dem Willen Gottes sind? Man kann verstehen, wenn das manchen als "schizophren” vorkommt. Man kann auch verstehen, wenn sich nicht jeder homosexuelle Pfarrer dazu in der Lage sieht, eine solche "verwinkelte” Argumentation zu führen. Vermutlich wird die Hauptwirkung der "Orientierungshilfe” darin bestehen, als Lehrstück für Argumentationsmuster dieser Art zu dienen. Bislang waren sich Theologen, die für eine Anerkennung homosexueller Partnerschaften in der Kirche eintraten, darüber im klaren, daß sie damit in einen offenen Gegensatz mit einigen Schriftaussagen geraten. Ein Teil ihrer Argumentation bestand deshalb darin, die entsprechenden Schriftaussagen in ihrer zeitlichen Bedingtheit zu relativieren oder aber sie offen zu kritisieren. Es war ihnen dabei auch bewußt, daß sie sich damit nicht mehr in Übereinstimmung mit der ganzen Schrift befanden. Die gegenwärtige Situation hatte dann oft mehr Gewicht und Autorität als die Schrift bzw. einzelne Schriftaussagen. Mit Hilfe der vorliegenden "Orientierungshilfe” wird es nun möglich sein, einerseits an den klaren, abwertenden Schriftaussagen festzuhalten, sie weder zu relativieren noch zu kritisieren. Andererseits ist aber der Weg dazu geöffnet, darüber hinaus nach einem ethisch verantwortbaren Umgang mit den von der Schrift negativ bewerteten Verhaltensweisen zu fragen. Man relativiert die Heilige Schrift nicht - man fragt über sie hinaus. Man kritisiert einzelne Schriftaussagen nicht - man stellt sie in einen größeren Kontext. Man leugnet den Widerspruch nicht - man läßt ihn in einer höheren Ordnung aufgehen. Man versucht nicht, die Bindung an Schrift und Bekenntnis (wenigstens an einigen Punkten) zu lockern - man begründet die eigene Sichtweise bzw. Verhaltensweise so, daß sie in Übereinstimmung mit dem Fundament der Kirche erscheint, was diese Position dann im kirchlichen Kontext nicht nur unangreifbar macht, sondern obendrein die anderen Kirchenmitglieder dazu nötigt, diese Sicht- oder Verhaltensweise - wenn sie denn mit Schrift und Bekenntnis in Übereinstimmung steht - zunächst zu akzeptieren, dann aber auch lehrmäßig zu vertreten. Damit bliebe die Einheit der Kirche gewahrt und zugleich wäre damit diejenige Gruppe zufriedengestellt, die zur Zeit noch - unter Berufung auf Schrift und Bekenntnis - dieser neuen "Einheit” am meisten Widerstände entgegenbringt. Obwohl die Orientierungshilfe "konservativer” und in ihrem Reformwillen
zurückhaltender ausgefallen ist, als manche erwartet bzw. befürchtet haben,
offenbart sie doch auf ihre Weise die Spannung, in der sich die evangelische
Kirche zur Zeit befindet: die Spannung zwischen ihrem eigenen Fundament, das in
Schrift und Bekenntnissen besteht, und der Entwicklung ihrer Lehre und des
Lebensvollzugs ihrer Mitglieder, die sich immer weiter von eben diesen
Grundlagen entfernen. Daß die evangelische Kirche - bei aller Wachheit gegenüber
den vielfältigen Spannungen in unserer Zeit - gerade diese Spannung nicht
wahrhaben will und vielmehr ganz neu ihre völlige Übereinstimmung mit Schrift
und Bekenntnis behauptet, zeugt von einem Defizit geistlich-theologischer
Wahrnehmung, das durchaus zur Sorge Anlaß gibt. Dieses Defizit hält sich auch
auf hohem Reflektionsniveau, wie die vorliegende "Orientierungshilfe” zeigt, die
- trotz vieler ausgezeichneter Ausführungen im einzelnen - im Grunde keine
ausreichende Orientierung zu geben vermag.
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