Brüdergemeinde und Bruderschaft

Ein Beitrag zum Selbstverständnis der Brüdergemeinden

von Gerhard Jordy



»Brüdergemeinden« - kein konfessionelles Schlagwort«

In den letzten zwei Jahrzehnten sprechen wir im Kreis unserer Gemeinden in Deutschland mehr und mehr von uns als »Brüdergemeinden«. Das war früher nicht üblich, legte man doch eher großen Wert darauf, als eine Bewegung von Gläubigen, die »einfach nur Christen« sein wollten und sich als solche im Namen Jesu versammelten, keiner konfessionellen Gruppierung zuzugehören. Und deshalb wollte man auch keinen Namen ragen. Doch wir Menschen scheinen im Leben nicht auszukommen, ohne die Dinge benennen zu können. Und so hat sich auch bei uns in Deutschland nach mancherlei Fehlentwicklungen falscher bzw. schiefer Namensbezeichnungen wie »Darbysten« und »Versammlung« schließlich die Benennung durchgesetzt, die unserer Gruppierung von Christen schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien zugelegt worden ist: »Brethren«, also »Brüder«.

Nun ist das keine besonders originelle Bezeichnung, sind doch alle wahrhaft an Jesus Christus Gläubigen, welcher Konfession auch immer, Brüder und Schwestern in Christus, wie wir das auch in der Evangelischen Allianz zum Ausdruck bringen möchten. Die Bezeichnung »Brüder« wirkt insofern eher blaß und ist als konfessionelles Schlagwort kaum geeignet. Sie umreißt eher etwas Wesenhaftes an dieser Bewegung gläubiger Christen, die sich von Anfang an in ihren gemeindlichen Zusammenkünften am Neuen Testament auszurichten suchten und dabei das bruderschaftliche Prinzip praktizierten.


Ein biblischer Grundsatz am Anfang der Brüderbewegung

Die Brüderbewegung war in Großbritannien um 1830 um 1850 auch in Deutschland aus der Sehnsucht entstanden, die konfessionellen Zäune, die selbst die wahrhaft Gläubigen in den verschiedenen Kirchen und Freikirchen voneinander trennten, in gelebter Bruderschaft zu überwinden. Und so traf man sich in zunächst kleinen, dann größeren Kreisen zum Gebet und zur Betrachtung des Wortes Gottes, schließlich auch zur Feier des Abendmahls, weil man sich bewußt war, daß hier das Zentrum der Gemeinschaft mit dem Herrn und untereinander liegt.

Als man dann auch noch begann, das Evangelium zu verkünden, und dazu große Säle baute, war eine eigenständige Bewegung hervorgerufen, deren Glieder die Bruderschaft nicht nur in der gegenseitigen persönlichen Wertschätzung übten (wie etwa in der bald darauf entstandenen Evangelischen Allianz), sondern ausdrücklich auch in den Zusammenkünften praktizierten. Ihre Gemeinschaft war und ist heute hoffentlich noch nicht von klerikaler (Klerus = Geistlichkeit, Priesterschaft), pastoraler Führung, sondern von der Ausübung des allgemeinen Priestertums unter der Leitung des Heiligen Geistes bestimmt, eben von geistgelenkter Bruderschaft. Der vom Herrn Jesus Christus selbst aufgetragene Grundsatz »Einer ist euer Lehrer, ihr alle aber seid Brüder« (Matth. 23,8) sollte in allem bestimmend sein.


Bruderschaft ... in der Leitung

Jede klerikale Abstufung etwa die zwischen Theologen (»Geistlichen«) und Laien war in ihrer brüderlichen Gemeinschaft von vornherein ausgeschlossen, mochten sich auch kirchliche Amtsträger unter ihnen befinden und in den ersten Jahren zwischen ihren Kirchen und den Versammlungen der »Brüder« hin und herwechseln, bis sie sich dann für die eine oder andere Seite entschieden. Auch J. N. Darby war anglikanischer Priester, daneben ein Motor der Brüderbewegung, bis er nach sieben Jahren aus der anglikanischen Kirche ausschied. Alle wollten einfach als Christen und Brüder zusammenkommen und handelten danach.

Das bedeutete andererseits nicht, daß sich nicht geistliches Führertum herausschälte, Persönlichkeiten, die die Anerkennung der Menge der Brüder und Schwestern in den Versammlungen besaßen. Aber es waren immer mehrere Brüder, weil eben die Leitung durch einen einzelnen dem bruderschaftlichen Prinzip des Neuen Testaments widerspricht. Dieser praktizierte Grundsatz führte dann auch dazu, daß die Vertreter anderer Kirchen sie um ihrer auffälligen andersartigen Struktur willen »Brüder« (englisch: »Brethren«) nannten.


... in menschlicher Unvollkommenheit

Abweichungen von dem genannten Prinzip waren natürlich nicht ausgeschlossen, wie Brüdergemeinden eben immer von zwei ungeistlichen Extremen bedroht sind: von der Führerlosigkeit oder von der Diktatur eines einzelnen. Dazwischen müssen die »Brüder« unter der Leitung des Heiligen Geistes ihren Weg finden. Und da ihren Gemeinden streng strukturierte Ordnungen fehlen, weil sie sich geistliche Spontaneität erhalten wollen, sind sie ganz besonders darauf angewiesen, auf die Stimme des Geistes zu hören. Daß das bei unserer menschlichen Unvollkommenheit nicht immer gelingt, dürfte klar sein. Aber die »Brüder« hatten den Mut, in dem Ringen um das Hören auf den Geist Gottes auch Versagen nach der einen oder anderen Seite hin in Kauf zu nehmen. Pastorale oder demokratische Ordnungen um einer vordergründigen Sicherheit willen sollten jedenfalls auch heute kein Ausweg sein.


... in den Zusammenkünften

Das alles galt auch entsprechend für die Gestaltung der Zusammenkünfte. Ob beim Abendmahl, ob bei der Wortverkündigung oder in den Gebetsversammlungen stets waren die »Brüder« davon überzeugt, daß der Herr nach seiner Zusage in ihrer Mitte war, wenn sie sich in seinem Namen versammelten (Matth. 18,19f). Und daß in der Gegenwart Christi auch sein Geist zur Wirkung kommen sollte, war ihnen ebenso selbstverständlich. Der Heilige Geist aber ist souverän, er wirkt, wo er will, und so sollten sich alle Brüder gemäß ihrer Gabe bereit halten, u.U. Werkzeug des Geistes zu werden und die Gemeinde zu erbauen: »Wie jeder eine Gnadengabe empfangen hat, so dient damit einander als gute Verwalter der verschiedenartigen Gnade Gottes« (1. Petr. 4,1) Insofern war jede programmierte gottesdienstliche Gestaltung für die »Brüder« unakzeptabel.

Gewiß, auch hier gab und gibt es Fehlverhalten, Mißgriffe: Zurückhaltung aus Menschenangst auf der einen Seite, Selbstüberschätzung auf der anderen; ungeduldiges Nicht Warten Können und träge Bequemlichkeit können dazu beitragen, daß das Prinzip bruderschaftlicher Gestaltung der Zusammenkünfte in Verruf gerät, was manchen zu der Meinung verleitet, Programmierung durch Experten sei besser als »laienhafte« Spontaneität und verhindere peinliche »Pannen«. Dürfen wir aber wegen der Möglichkeit unseres menschlichen Versagens, das natürlich in einer Gemeinschaft offensichtlicher ist als im persönlichen Leben, den einmal erkannten biblischen Grundsatz der »Priesterschaft aller Gläubigen« aufgeben?


Ein Beitrag zum Zeugnis der Kirche Christi heute

Im Gegenteil, wir sollten es viel mehr als Auftrag sehen, diese Seite gemeindlichen Lebens zeugnishaft zu verdeutlichen. Das geistliche Zusammenwirken der verschiedenen Beiträge in den Zusammenkünften, die lebendigen Gebetsgemeinschaften, die vertrauensvolle Zusammenarbeit von Brüdern und Schwestern in allen Bereichen des Gemeindelebens in der biblisch angemessenen Weise bewahren uns nicht nur davor, in gottesdienstlichen Zeremonien zu erstarren und seien sie noch so effektvoll vielmehr können sie insgesamt unsere Gemeinden ihrer wahrhaften Glauben und ihre innige Gemeinschaft mit dem Herrn der Gemeinde bezeugen.


Bruderschaft trotz unserer Mängel

Manche Gemeinden meinen, nicht mehr ohne einen hauptberuflichen Prediger auskommen zu können, weil es ihnen an Gaben für den Dienst der Verkündigung fehle. Sicherlich gibt aber der Herr alle Gaben, die für die Gemeinde notwendig sind; und es ist eher die Frage, ob genügend Brüder bereit sind, unter Verzicht auf Freizeit und Geld die Bibel so intensiv in ihr Leben hineinzunehmen, daß der Geist Gottes sie in der Gemeinde gebrauchen kann. Wo hauptberufliche Mitarbeiter für unterschiedliche Aufgabenbereiche in der Gemeinde vorhanden sind, muß das bruderschaftliche Prinzip der Brüdergemeinden darin zum Ausdruck kommen, daß sie in der Bruderschaft der entsprechenden Gemeinde integriert sind. Auch Führertum bedarf immer der brüderlichen Korrektur, muß doch die Geistesleitung des einzelnen immer unter der geistlichen Beurteilung der übrigen Brüder stehen. Dazu gehört allerdings die vorurteilslose, liebende Annahme des Bruders.

Dieses Annehmen des Bruders ist die unbedingte Voraussetzung für jedes bruderschaftliche Leben in der Gemeinde, wie auch eine Ehe nicht ohne die bedingungslose Annahme des Ehepartners gedeihen kann. Ob es nicht gerade hier bei uns mangelt, weil Bruderschaft oft nicht ohne Reibungen oder gar Verletzungen geschieht und es uns deshalb zuweilen so schwerfällt, den Bruder wirklich anzunehmen? Deshalb sollten wir uns in den Brüdergemeinden ganz besonders die Mahnung des Wortes Gottes (1. Petr. 4,8) zu Herzen nehmen: »Vor allen Dingen aber habt untereinander eine anhaltende Liebe, denn die Liebe bedeckt eine Menge von Sünden.«

Dieser Artikel erschien erstmalig in der Zeitschrift der Brüdergemeinden "Die Botschaft" Nr. 3/1994, S. 1-2


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Ins Netz gesetzt am 26.06.2001; letzte Änderung: am 30.01.2017

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