Sekten erkennen und mit ihnen umgehen

von Wolfgang Klippert [ 1 ]


Weltweit gibt es über 2000 verschiedene christliche Sekten. Diese Zahl erschreckt. An die großen Sekten wie die Zeugen Jehovas, die Neuapostolische Kirche und die Mormonen haben wir uns gewöhnt. Aber die vielen kleinen Gruppierungen sind kaum überschaubar. Sind es wirklich immer Sekten? Was ist eigentlich eine Sekte, wie entsteht sie und woran erkennt man sie? Diesen Fragen wollen wir nachgehen.

Was bedeutet das Wort "Sekte"?

Das Wort "Sekte" leitet sich von dem lateinischen Wort "sequi", (folgen) ab und bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die einer bestimmten "secta" (Richtlinie) anhängen, folgen. Die Ableitung aus dem lateinischen Wort "secare" (abschneiden) ist nicht richtig. Das entsprechende griechische Wort, das sich auch im Neuen Testament findet (z. B. Gal 5,20), heißt "hairesis" (Partei, Richtung, Schule); unser Fremdwort "Häresie" ist davon abgeleitet. Das Wort "Ketzer" stammt aus der mittelalterlichen Polemik der katholischen Kirche gegen die damals in Südfrankreich existierende Gruppe der Katharer (die Reinen).

Warum wird der Begriff "Sekte" so unterschiedlich gebraucht?

Läßt sich das Wort "Sekte" noch leicht herleiten, wird es bei der Bestimmung seines Inhalts wesentlich komplizierter. Zunächst ist eine Sekte eine Minderheit, die mit einer abweichenden Lehre und Praxis einer größeren Gruppe (z. B. einer Religion oder Konfession) gegenübersteht und sich von ihr abgespalten hat.

Die Bezeichnung Sekte wird der neuentstandenen Gruppe von der alten Glaubensgemeinschaft beigelegt, um sich von ihr abzugrenzen und sie abzuwerten. Das Wort Sekte ist daher eine Fremdbezeichnung mit polemischem Charakter, die von jeder größeren Gruppe nach ihrem Belieben gegen Minderheiten eingesetzt wird, die aus ihr hervorgegangen sind.

Das Selbstverständnis der Sekte sieht jedoch ganz anders aus: Sie versteht sich als die wahre Vertreterin des ursprünglichen Glaubens, den sie vor dem Verfall bewahren oder vollenden will. Die Sektenmitglieder sehen in sich die wenigen Treuen oder besonders Erleuchteten und entwickeln ein exklusives Selbstverständnis. Deshalb gehen sie auf der einen Seite in die Isolation, während sie in vielen Fällen gleichzeitig eine intensive Mission betreiben. Sie lehnen die Tradition der ursprünglichen Glaubensgemeinschaft ab und entwickeln ihre Identität aus der Abgrenzung ihr gegenüber. Auf diesen allgemeinen Grundüberlegungen aufbauend, gibt es unterschiedliche Versuche, den Begriff Sekte zu definieren.

a. Der römisch-katholische Sektenbegriff

Bedingt durch den Absolutheitsanspruch der katholischen Kirche und die Vorstellung, daß es außerhalb der Kirche kein Heil gibt, wurde über viele Jahrhunderte von ihr jede Gruppierung als Sekte bezeichnet, die sich gegen Theologie und Autorität der Kirche stellte. Waldenser, Hussiten oder anfangs auch die Bewegung der Reformation wurden als Sekten disqualifiziert. Wenn auch viele katholische Theologen sich heute nicht mehr in diesem Sinne äußern, hat sich dieses Verständnis doch tief ins Bewußtsein des Kirchenvolks eingeprägt. Abspaltungen von der Kirche hat es aber schon in frühester Zeit gegeben. Die römisch-katholische Kirche hat zu keinem Zeitpunkt der Geschichte das ganze Weltchristentum in sich vereinigt.

b. Der landeskirchliche Sektenbegriff

Mit Ende des Dreißigjährigen Kriegs wurden im Westfälischen Frieden (1648) die katholische, die lutherische und die reformierte Kirche reichsrechtlieb anerkannt; allen anderen "Religionen und Sekten" wurde keine Duldung gewährt. Wegen der Alleingültigkeit einer Konfession in einem bestimmten Territorium wurden alle Gruppierungen, die sich nicht innerhalb der Landeskirche bewegten, als Sekte gebrandmarkt. Die im vergangenen Jahrhundert in Deutschland entstandenen Freikirchen mußten lange Zeit mit dem Makel des Sektierertums leben. Im Bewußtsein der Bevölkerung ist auch heute vielen noch suspekt, was nicht in die Großkirchen eingegliedert ist.

c. Der soziologische Sektenbegriff

Mit zunehmender Säkularisierung verloren theologische Fragestellungen als Beurteilungskriterien an Bedeutung. Religion, Kirchen, Freikirchen und Sekten werden unter einem rein soziologischen Gesichtspunkt beurteilt. Von einer Sekte ist dann zu sprechen, wenn eine Gruppierung wegen mangelnder Größe und gesellschaftlicher Akzeptanz keine ausreichende Einbindung in die Gesellschaft erfährt. Der religiöse Konsens spielt eine untergeordnete Rolle; als wesentlich wird der kulturelle Konsens angesehen. Wenn die Ideen und Lebensformen einer Gruppe zu sehr von der allgemeinen Sicht- und Lebensweise abweichen, wird sie als Sekte verstanden. Die Zeugen Jehovas wären demnach deshalb noch als Sekte zu bezeichnen, weil sie wegen ihrer Lebensformen kaum gesellschaftlich akzeptiert werden. Die Neuapostolische Kirche dagegen hat einen Prozeß der Verkirchlichung durchgemacht und wird von weiten Teilen der Bevölkerung als Kirche anerkannt.

d. Der ökumenische Sektenbegriff

Im Zuge des gesellschaftlichen und religiösen Pluralismus gewinnt das Moment der Toleranz immer größere Bedeutung. Von einer Sekte wäre dann zu sprechen, wenn sich eine Gruppe der Integration (Eingliederung) in das weltweite Christentum entzieht. Wer nicht im Konzert der Ökumene mithält und nicht tolerant ist (im ökumenischen Sinn), schließt sich selbst aus dem Kreis der Christenheit aus.

e. Der Sektenbegriff anhand von "Sonderlehren"

Weil jede Sekte Sonderlehren vertritt und in den Mittelpunkt rückt, gibt es den Versuch, alle die Gruppierungen als Sekte zu bezeichnen, die die Inhalte der Heiligen Schrift durch verzerrende Oberbetonung einer biblischen Lehre, durch deren Verfremdung oder durch Hinzufügung bibelfremder Lehren entstellen. Daß die Mormonen, die der Schrift zusätzliche Offenbarungen beiordnen bzw. überordnen, dann als Sekte zu bezeichnen wären, ist verständlich. Aber eine Anwendung des Sektenbegriffs gegenüber den Baptisten, die die Glaubenstaufe, und den Brüdergemeinden, die die Mahlfeier stark betonen, wäre grundsätzlich unangemessen.

Was ist eine Sekte?

Alle bisher beschriebenen Erklärungen befriedigen nicht, obwohl einzelne Tellaspekte eine gewisse Berechtigung haben. Wir müssen den Sektenbegriff vom Zentrum her verstehen; und dieses liegt in der Christologie und Soteriologie, also im Verständnis Jesu Christi und des durch ihn geschaffenen Erlösungswerks. Ich definiere den Sektenbegriff deshalb folgendermaßen:

Als Sekte ist jede Gruppe zu bezeichnen, die die Person oder das Erlosungswerk Jesu Christi verdeckt, ergänzt oder entstellt und damit die durch ihn geschehene Erlösung in Frage stellt.

Diese Definition ist eng genug, um so gut wie alle heute bekannten Sekten als solche zu erkennen. Sie ist aber auch weit genug, um Spielraum für konfessionelle Eigenarten zu lassen. Zusätzlich halte ich eine Unterscheidung der Begriffe "Sekte" und "sektiererisch" für wichtig. Die Neuapostolische Kirche z.B. ist deshalb als Sekte anzusprechen, weil sie Person und Werk Jesu mit dem Stammapostel ergänzt und verdeckt. Aber eine christologisch und soteriologisch auf dem Boden der Heiligen Schrift stehende Gruppe kann durchaus "sektiererische" Züge an sich tragen, ohne deshalb eine Sekte zu sein. Wenn sie beispielsweise einen allein seligmachenden Anspruch erhebt oder sich völlig von anderen Christen isoliert, handelt sie "sektiererisch". Als typische Kennzeichen einer solchen sektiererischen Haltung würde ich ansehen:

  • Absolutheitsanspruch gegenüber andern Christen oder Gemeinden.
  • Autoritäre Führungsstrukturen.
  • Scharfe Kontrolle des Privatlebens und ausgeprägte Normierung des Lebens der Mitglieder.
  • Aggressive Missionsmethoden, die vorwiegend der Gewinnung neuer Mitglieder dienen. Wenn sich eine Gruppe an einzelnen Stellen sektiererisch verhält, muß sie aber noch keine Sekte sein. In den meisten Fällen jedoch geht beides Hand in Hand.

  • Welche Ursachen gibt es für die Entstehung von Sekten?

    Die meisten Sekten entstehen durch eine "charismatische" Gründerpersönlichkeit. Sie verstehen sich als Sprachrohr Gottes und als sein auserwähltes Werkzeug. In vielen Fällen sprechen sie sich göttlichen Ursprung und göttliche Eigenschaften zu. Eigenbrödelei, Rechthaberei, Herrschsucht, Unbußfertigkeit und spekulative Veranlagung spielen als Charaktereigenschaften eine wichtige Rolle. Auch Ideologien, Philosophien, Fremdreligionen und okkulte Einflüsse wirken bei der Entstehung von Sekten mit. Manchmal (beileibe nicht immer!) trifft auch die Gemeinde Christi eine Mitschuld: mangelnde biblische Lehre, Unachtsamkeit der Gemeindeleitung, Versagen und Defizite im Leben von Christen haben schon oft zur Entstehung von Sekten beigetragen. Dafür gibt es viele traurige Beispiele. Ein gesundes geistliches Gemeindeleben ist deshalb der beste Schutz vor Sektierertum,

    Wie beurteilen wir eine Sekte?

    Fast alle in Deutschland vertretenen Sekten können anhand der oben genannten Definition erkannt werden. Aber es gibt zusätzliche Merkmale, auf die zu achten ist. Folgender Fragenkatalog nennt die wichtigsten:

  • Wie ist die Stellung zur Heiligen Schrift? Ist die Bibel alleinige Autorität oder wird sie durch Prophetien, besondere Schriften oder durch die Autorität einzelner Personen theoretisch und/oder praktisch geleugnet?
  • Wie ist die Stellung der Gruppe gegenüber ihrem Gründer? Werden Menschen gleichsam religiös verehrt, beanspruchen sie unbedingten Gehorsam oder göttliche Autorität?
  • Versteht sich die Gruppe als allein seligmachend? Pflegt sie Kontakt zu anderen Christen oder lehnt sie jede Gemeinschaft mit ihnen ab?
  • Wie steht die Gruppe zu Geld, Besitz und biblischer Moral? Werden Reichtümer gesammelt, die andere erarbeitet haben? Leben die Führer der Gruppe und die Mitglieder nach biblischen Maßstäben?
  • Wie ist die Gruppe entstanden? Welche religiösen, weltanschaulichen und vielleicht okkulten Gedanken stehen im Hintergrund ihrer Lehre und Praxis?
  • In den meisten Fällen reicht ein einziges Kriterium nicht aus, um schon von einer Sekte zu sprechen. Aber die genannten Fragen geben zusätzliche Verstehenshilfen.

    Wie gehen wir mit Sektenmitgliedern um?

    Diese Frage läßt sich kaum in wenigen Sätzen beantworten, weil jede Sekte im Blick auf Lehre und Praxis eine andere Antwort erforderlich macht. Einige Grundsätze zum Umgang mit Mitgliedern einer Sekte lassen sich dennoch nennen:

  • Gehen Sie in Liebe auf Ihr Gegenüber ein. Ein Sektenmitglied ist nicht Ihr Feind, sondern ein Mensch, den Gott liebt.
  • Erschrecken Sie nicht, wenn Ihnen völlig unbiblische Lehren vorgetragen werden. Versuchen Sie, sich auf die fremde Gedankenwelt einzustellen.
  • Lassen Sie sich im Gespräch nicht auf Nebengleise abbringen. Kommen Sie auf Jesus Christus und sein Erlösungswerk zu sprechen.
  • Argumentieren Sie immer aus der Bibel und ermutigen Sie, die Bibel selbständig und im Zusammenhang zu lesen.
  • Lassen Sie sich nicht in die Defensive dringen, sondern stellen Sie selbst Fragen an Ihr Gegenüber: "Haben Sie Heilsgewißheit? Warum nicht? Möchten Sie Heilsgewißheit?"
  • Trennen Sie sich in Liebe, wenn ein Gespräch nicht weiterführt, und stehen Sie zu einem weiteren Gespräch zur Verfügung, wenn Sie bei Ihrem Gegenüber auf aufrichtiges Interesse stoßen.
  • Das Problem der Sekten werden wir bis zur Wiederkunft Jesu Christi nicht lösen können. Solange der Widersacher wirkt, gibt es auch Sekten! Aber wir können uns selbst davor schützen, sektiererische Ansichten zu vertreten, und wir können anderen helfen, zu einem biblischen Glauben zu finden.



    [ 1 ] Der Autor, Wolfgang Klippert (Bergneustadt), ist theologischer Lehrer an der "Theologischen Akademie Wiedenst".

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    Copyright (C) 1994 Wolfgang Klippert. Alle Rechte vorbehalten.
    Dieses Papier ist ausschließlich für den persönlichen Gebrauch bestimmt.
    URL: http://www.efg-hohenstaufenstr.de/downloads/texte/sekten_erkennen.htm
    Ins Netz gesetzt am 14.11.2001; letzte Änderung: 29.12.2016

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