Geistliche Aspekte bei der Therapie von Patientinnen mit Essstörungen

Dr. med. Wilfried Haßfeld [ 0 ]


Erfahrungen mit psychisch kranken Christen führen immer wieder zu einem großen Dilemma. Gerade von ernst meinenden Christen wird die Psychotherapie als Konkurrenz zur Seelsorge empfunden. Häufig wird ihnen indirekt und nicht selten direkt die Auffassung vermittelt: Wenn du nur richtig glauben würdest, dann...! Wenn du deine Sünde ans Licht bringen würdest, dann...! Die ausgesprochenen Folgerungen dieser Wenn-dann-Sätze beinhalten vor allem die Ansicht, dass sich „dann" die psychische Erkrankung von selbst auflösen würde, aber auch die mittelbar abzuleitende harte Konsequenz, die Kranken seien letztlich an ihrem Leiden selbst schuld. Die verlockende Aussicht auf Erlösung vom Leiden erweist sich häufig als gefährliche Falle. Die Schuldzuweisung bringt zusätzlichen Druck und führt zu einer weiteren Entfremdung von der haltenden und nährenden Hand Gottes.

In diesem Aufsatz ist nicht der Raum, die Problemstellung ausführlich zu erörtern. Es soll auch nicht verhehlt werden, dass von den "Erzvätern" der Psychoanalyse, vor allem von Freud selbst, eindeutige Grenzen ihres Fachgebietes überschritten wurden. Freud sah z. B. den christlichen Glauben als eine neurotische Symptombildung[ 1 ] an, die der Psychotherapie bedarf. Dennoch soll in dieser Darlegung der Versuch gewagt werden, gewissermaßen einige wenige Schneisen durch das Dickicht der individuellen Problemstellungen und ihrer geistlichen Bewertung zu schlagen, und zwar ausschließlich im Bereich von einigen klinisch relevanten Essstörungen.



Erleben essgestörte Frauen den Kontrollverlust unterschiedlich?[ 2 ]

Die drei wichtigsten Essstörungen sind Magersucht (Anorexie), Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und „binge-eating-disorder” (Heißhungerstörung), eine Störung, die besonders in den USA als eigenständiges, aus der Fülle der Essstörungen mit Übergewicht herausgelöstes Krankheitsbild beschrieben wurde. Alle drei Erkrankungen[ 3 ] können unter dem Aspekt einer (prozessorientierten) Suchterkrankung gesehen werden.

Magersüchtige haben erlebt, wie sie erfolgreich ihr Gewicht reduzieren konnten. Dabei sind nicht wenige in einen "rauschhaften" Zustand der Euphorie geraten, den sie auf Nachfrage auch so beschreiben. Eine fatale Entdeckung machen die Magersüchtigen erst viel später, wenn sie nämlich mit dem Abnehmen nicht mehr aufhören können. Erschwerend kommt hinzu, dass der Kontrollverlust, nicht mit dem Fasten aufhören zu können, Hand in Hand mit einer körperlichen Fehleinschätzung einhergeht. Auch wenn Anorektikerinnen körperlich nur noch aus "Haut und Knochen" zu bestehen scheinen, so empfinden sie sich subjektiv dennoch als viel zu dick. Diese fehlerhafte körperliche Selbstwahrnehmung wird als Körper-Schema-Störung bezeichnet. Auch ein drastisches Untergewicht veranlasst magersüchtige Frauen also kaum, nachdenklich zu werden. Der Zwang, immer mehr abnehmen zu müssen, wird von ihnen relativ spät als Kontrollverlust - das zentrale Kriterium einer Suchterkrankung im akuten Stadium - wahrgenommen. Sie kommentieren dieses Erleben z. B. mit den Worten: "Dann ist mir das Abnehmen aus den Händen geglitten!" Ein nicht unerheblicher Prozentsatz der Patientinnen bezahlt die weitere Gewichtsabnahme, wenn sie zur stationären Behandlung nicht bereit sind, mit dem Tode, zumal die Anorexie die psychiatrische Erkrankung mit der höchsten Todesrate ist (10-20%).

Bulimische Frauen steigern ihre Ess-Brech-Attacken immer mehr, so dass sie schließlich unter Vernachlässigung aller ihrer Lebensinteressen nur noch mit der Beschaffung von Nahrungsmitteln, mit dem Essen, schließlich mit dem Verschlingen riesiger Mengen von Esswaren und zuletzt mit dem reuevollen, oft auch sehr autodestruktiven Erbrechen beschäftigt sind. Hier wird der süchtige Aspekt, vor allem der Kontrollverlust, sehr deutlich. Die bulimischen Frauen, die zur stationären Aufnahme kommen, die also ambulant nicht mehr erfolgreich behandelt werden können, beschreiben diese rastlosen Anstrengungen auch genauso wie Abhängige mit einer stoffgebundenen Suchterkrankung, die nur noch mit der Beschaffung und dem Konsum des Suchtmittels befasst sind.

Frauen und Männer mit einer "binge-eating-disorder" verhalten sich ähnlich wie bulimische Frauen, nur mit dem gravierenden Unterschied, dass ihre Fressattacken schließlich nicht in ein Erbrechen münden, sondern zu einer ganz erheblichen Gewichtszunahme führen mit allen daraus entstehenden weiteren Leiden. Auch sie erleben den Kontrollverlust trotz unaufhörlicher neu gefasster Vorsätze immer schmerzlicher. Diese verzweifelten Versuche führen dazu, dass der Ausweichmechanismus immer tiefer eingeschliffen, der innere Spannungsbogen immer schwächer wird, der letzte Rest an Selbstwert mehr und mehr schwindet und schließlich Angstgefühle stetig zunehmen.



Welche Hindernisse verstellen den Weg zur Krankheitseinsicht?

Der Kampf gegen die Einsicht, an einer Essstörung zu leiden - genauer formuliert: dem Kontrollverlust hilflos ausgesetzt zu sein -, dauert lange, obwohl die Erkrankung ja fortschreitet. Es gibt dafür eine Reihe von Hintergründen. Einige wichtige seien erwähnt.

  • Die esssüchtige Patientin lebt in einer großen Einsamkeit. In der Regel versucht sie, ihr Essverhalten, soweit wie es nur irgend geht, geheimzuhalten. Oft bekommen die engsten Angehörigen von der Erkrankung erst etwas mit, wenn es zu einem inneren Zusammenbruch gekommen ist. Es geschieht sogar, dass essgestörte Patientinnen selbst in einem Fachkrankenhaus für Suchtkranke ihre Erkrankung verheimlichen. Bulimikerinnen scheinen dieses Versteckspiel am perfektesten zu beherrschen.


  • Die Geheimhaltung erfordert einen Zwei-Fronten-Krieg: Nach außen wird der Eindruck erweckt, als bestünden überhaupt keine Probleme. Innen tobt die grausame und brutale Auseinandersetzung mit dem sich verselbstständigenden Essverhalten. Die Aufrechterhaltung der Fassade und das zunehmende innere Chaos fordern ständig mehr Kraft.


  • Die Verzweiflung und die immer seltener aufkeimenden Hoffnungen werden erneut in der Auseinandersetzung mit den Nahrungsmitteln ausgelebt[ 4 ], so dass die Erkrankung im Sinne eines circulus virtiosus weiter fortschreitet.


  • Schließlich entsteht - wie schon oben dargelegt - eine wachsende Ich-Schwäche mit äußerst geringer Frustrationstoleranz und intensiven Schuld-, Minderwertigkeits-, Einsamkeits- und Angstgefühlen. Diese werden wie ein nicht entwirrbares Gefühlsknäuel im Wesentlichen als schmerzhaftes Spannungsgefühl empfunden.


Warum fällt der Weg zur Kapitulation so schwer?

Zu den wohl wichtigsten Voraussetzungen für die Therapie an den jeweiligen (psychodynamischen) Hintergründen der individuellen Erkrankung zählt die Krankheitseinsicht in die oben beschriebenen Zusammenhänge, die sich um das Phänomen des Kontrollverlustes gruppieren. Anders ausgedrückt: fällt die esssüchtige Frau mehr oder weniger bewusst eine Entscheidung, ob sie vor der Tatsache des Kontrollverlustes kapitulieren oder nach Wegen zu einer friedlichen Koexistenz mit ihrer Suchterkrankung suchen will. Kompromisshafte "Lösungen" sehen z. B. so aus:

  • Rational, also verstandesmäßig wird die Essstörung relativ rasch zugegeben, emotional die Gebundenheit an den krankhaften Umgang mit dem Essen aber nicht berührt. Da nach außen hin Krankheitseinsicht vorgespielt wird, die emotional mangelhaft oder gar nicht verankert ist, setzt die esssüchtige Frau das endlose Spiel mit dem Selbstbetrug fort.


  • In den Fällen, in denen die Erkrankung noch nicht weit fortgeschritten ist, fällt die Bereitschaft zu solch einer vertieften, emotional spürbaren Krankheitseinsicht um so schwerer.


  • Besonders bei den esssüchtigen Frauen mit großem Übergewicht ist gelegentlich ein hohes Maß an Resignation entstanden, so dass oft viel Zeit vergeht, ehe sie wieder Vertrauen fassen können und sich innerlich auf den Weg machen.


Empfinden Christen den Kontrollverlust anders?

In die Klinik Hohe Mark kommen immer wieder esssüchtige Frauen, die in einer Beziehung zu Christus leben. Sie suchen bewusst diese Klinik auf, in der die Reflexion ihrer Erkrankung gerade auch auf dem Hintergrund ihrer Beziehung zu Christus möglich ist. Sie leiden einerseits unter mehr oder weniger bewussten Schuldgefühlen Gott gegenüber. Andererseits sind sie erschüttert über die Tatsache, dass sie sich trotz ihres Glaubens so weit in die Essstörung verirren konnten bzw. Gott anscheinend nichts unternommen hat, sie vor dieser Erkrankung zu bewahren. Wenig fassbar und konkret benennbar scheinen Christen jedoch auch ein bestimmtes Wissen mitzubringen, dass sie einer fremden Macht erlegen sind.

Paulus mag das Problem der Abhängigkeit im Auge haben, wenn er 1. Korinther 6, Vers 12 formuliert:

    Mir ist alles erlaubt -
    aber nicht alles dient mir zum Guten.
    Mir ist alles erlaubt -
    aber nichts darf mich gefangennehmen.

Paulus hat mit diesem Vers die Grenze zwischen Gesundem und Krankem, Genuss und süchtigem Erleben, Freiheit und Kontrollverlust sehr gut beschrieben. Interessant ist, dass er diese Unterscheidung an erster Stelle auf die Nahrung bezieht und auf die Vergänglichkeit unserer Beziehung zur Nahrung hinweist (Vers 13):

    Die Nahrung ist für den Magen da und der Magen für die Nahrung -
    aber Gott wird sie beide zerstören.

In Vers 19 legt er dann die Beziehung zu und die Machtverhältnisse in unserem Körper dar:

    Wisst ihr nicht, dass ihr ein Tempel des Heiligen Geistes seid, der in euch ist, und den ihr von Gott empfangen habt?
    Ihr gehört nicht euch selbst;
    ihr seid mit einem Lösegeld erkauft.
    Deshalb ehrt Gott mit eurem Körper.

Die therapeutische Arbeit in der ersten Zeit des stationären Aufenthaltes zielt auf Krankheitseinsicht ab. Das heißt für Christen, dass ein Machtwechsel stattfinden muss: Anstelle der Macht der Essstörung, dem Kontrollverlust, soll die größere Macht Christi stehen.

Hier muss erwähnt werden, dass in den ersten drei "Schritten" des 12-Schritte-Programms der “overeaters anonymous” (OA), die sich auf den süchtigen Umgang mit der Nahrung anwenden lassen, diese Zusammenhänge in einer einmalig prägnanten Weise auf den Punkt gebracht werden:

  1. Wir gaben zu, dass wir dem Essen[ 5 ] gegenüber machtlos waren und unser Leben nicht meistern konnten.


  2. Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.

  3. Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir ihn verstanden - anzuvertrauen.

Christen stören sich an der Formulierung einer "Macht, größer als wir selbst", und eines Gottes[ 6 ], „wie wir ihn verstanden“. Es fällt ihnen schwer, dafür Christus einzusetzen, so dass sie oft geneigt sind, das Kind mit dem Bade auszuschütten, also in Gefahr sind, an der Klarheit dieser Machtübergabe vorbeizugehen. Oder könnte die für einen Christen zugegebenermaßen diffuse Formulierung ein Vorwand sein, die sehr präzise Darstellung der Machtverhältnisse, wie sie in den ersten drei Schritten zum Ausdruck kommt, für das eigene Leben nicht anerkennen zu müssen? Meine persönliche, sicher auch begrenzte Erfahrung ist, dass vor allem Anorektikerinnen mit restriktivem Essen, aber auch solche mit bulimischem Verlauf[ 7 ] diesen Machtwechsel bewusster anstreben, wenngleich es ihnen genauso schwerfällt, das Ideal ihres Untergewichts und ihrer Fähigkeit, den "fleischlichen Genüssen" widerstehen zu können, aufzugeben.



Welche Einflüsse verhindern die Fähigkeit, sich wehren zu können?

Wie oben erwähnt, liegt der vorrangige Schwerpunkt in der Behandlung von essgestörten Frauen in der Krankheitseinsicht, um zu einer realistischeren Einschätzung der Essstörung zu gelangen, eine Motivation für Veränderungen des Essverhaltens zu schaffen und vom Kurs eines Selbstmordes auf Raten auf den Kurs zum Leben zu wechseln. Ein weiterer, sehr wichtiger Schwerpunkt besteht dann darin, die individuellen Hintergründe[ 8 ] für die jeweilige Essstörung zu bearbeiten.

Als ein Beispiel möchte ich die aggressive Hemmung herausgreifen. Menschen mit einer aggressiven Hemmung empfinden keine aggressiven Affekte, sie ärgern sich nicht, sie können sich nicht abgrenzen. Anstelle von Aggressionen erleben sie andere Affekte wie z. B. Traurigkeit, Angst. Manche versuchen, die Situation mit einem Lächeln zu überspielen. Es gibt eine Fülle von auslösenden Beziehungserfahrungen in der Ursprungsfamilie und nicht selten in der Schule, die die Entwicklung einer aggressiven Hemmung begünstigt. Einige wichtige Möglichkeiten sollen hier erwähnt werden:

  • Impulsives Ausagieren des oft alkoholkranken Vaters sei erwähnt, sei es durch Schläge bei nichtigen oder fehlenden Anlässen, durch vernichtende, entwertende Worte bzw. Beschimpfungen, oder sei es, dass Kinder Gewaltszenen miterleben, in denen zum Beispiel die Mutter brutal geschlagen wurde. Aggressive Hemmungen können sich auch durch Ängste vor der Übermacht "Vater" oder aber durch eine tiefe Verachtung allen aggressiven Verhaltens als einzig möglicher Abwehr entwickeln.


  • Neben Angst vor aggressivem Verhalten und dessen Verachtung kann auch tiefe Beschämung eine Ursache sein, wenn sich aus der Sicht der Patientinnen z. B. Lehrer vor den Augen der ganzen Klasse grenzüberschreitend erotisch sexuell Schülerinnen - besonders während der beginnenden Pubertät - nähern. Durch die entstehende Schamangst werden die Aggressionen dann in der Regel gegen die eigene Person gerichtet etwa in Form von Selbstverletzungen (schneiden, brennen etc.) oder suizidalen Phantasien bis hin zum vollzogenen Suizid (siehe unten).


  • Aggressionen können auch durch Abblocken von Verselbstständigungstendenzen gehemmt werden. Wünsche, sich aggressiv im Sport auszutoben oder sich an den Eltern in Auseinandersetzungen zu reiben, werden beispielsweise mit psychosomatischen Beschwerden der Eltern (Herz-, Magen-, Kopfschmerzen etc.) beantwortet. Bei den Kindern treten meist nicht bewusste Schuldgefühle auf, die die aggressiven Bestrebungen schon im Keim ersticken. Zu dieser Kategorie zählen auch eingeredete religiöse Schuldgefühle, wenn Gott als wirksames Instrument gebraucht wird, um Kinder mit entsprechenden Drohungen[ 9 ] zu disziplinieren ("Gott sieht alles! Eines Tages wirst du schon die gerechte Strafe bekommen!").


Warum können viele Christen ihren Ärger nicht ausdrücken?

Bei der aggressiven Hemmung, die bei magersüchtigen Frauen eine ganz spezifische Ausgestaltung erfährt, spielen Ideologisierungen eine große Rolle, die mit Worten, durch die Familienatmosphäre oder durch Familientabus weitergegeben werden. Interessanterweise prägen diese Erfahrungen auch die geistliche Wahrnehmung, selbst wenn aggressiv gehemmte Menschen später in eine persönliche Beziehung zu Christus eintreten. Wie durch einen Filter werden alle aggressiven Impulse zurückgehalten und gar nicht erst wahrgenommen. Dass Christus sich auch seiner eigenen Mutter gegenüber kritisch verhalten hat (der 12jährige Jesus im Tempel, bei der Verwandlung von Wasser in Wein etc.), wäre in der Familie einer essgestörten, vielleicht anorektischen Frau völlig undenkbar gewesen. In vielen Fällen besagt die Familienmoral, dass man sich nach außen überhaupt nicht kritisch äußern darf: "Man beschmutzt nicht das eigene Nest!" Diese Moral ist regelhaft in Familien mit einem Suchtkranken anzutreffen. Das 7fache Wehe der Pharisäer, das Jesus ausgesprochen hat und in Matthäus 23 berichtet wird, oder die Situation, in der Jesus die Geldwechsler und Viehhändler aus dem Tempel hinauswirft, weil er die Vermischung von persönlichem Gewinnstreben und geistlichen Belangen nicht ausstehen kann, wird als heiliger Zorn Jesu begründet, der uns Menschen nicht zusteht. Jesus - so wird argumentiert - "durfte" das. Wir sterblichen sündigen Menschen dürfen das nicht. Aber schließlich konnte sich auch Paulus bei allem nötigen Taktgefühl sehr wirksam aggressiv äußern.

Die Bearbeitung der ideologischen Abwehr - wie wir dieses Phänomen bezeichnen - ist wichtiger Teil der Therapie. Viele Christen sind sehr verwundert, wie sie durch die aggressionsfeindliche Brille der Vergangenheit die Person Jesu doch sehr reduziert wahrgenommen haben und wie befreiend und fruchtbar er mit seinem Ärger und seiner Kritik umgegangen ist.

Langsam wächst ein Gespür, dass die Extremformen der Aggression wie bei einem Pendel, das weit ausschlägt, ganz außen zu sehen sind: auf der einen Seite die rasende, unkontrollierte Wut, die das Leben anderer gefährdet, auf der anderen Seite die völlig blockierte Aggressivität, die sich impulsiv in Selbstschädigungen und Suizidphantasien entlädt und in chronifizierter Form in depressiven Verstimmungen in Verbindung mit diffusen und häufig sehr unbegründeten Schuldgefühlen. Darüber hinaus gibt es aber in der Mitte des Pendelausschlags auch konstruktive Aggressionen, die bei jeder Abgrenzung, bei der Klärung von eigenen und fremden Wünschen und Zielvorstellungen, eine unentbehrliche Rolle spielen.

Interessant ist, wie überrascht Patientinnen sind, wenn sie den Anfang wagen, sich abzugrenzen. Sie hatten erwartet, dass der Partner nun nichts mehr von ihnen wissen will, weil er gekränkt ist. Genau diese Reaktion bleibt in der Regel aus. Selbst die Beziehung zu Gott ist gereinigter, wenn nicht diffuse Schuldgefühle im Raum stehen, sondern konkrete Schuld beim Namen genannt wird, um von Christus übernommen zu werden. Positive Erfahrungen mit angenehmen Gefühlen stellen sich ein, wenn depressiv strukturierte Menschen ihre Wünsche offen benennen, die sie ein ganzes Leben lang zurückgehalten haben, von denen sie aber bisher immer meinten, dass andere Menschen sie auch ohne Worte verstünden und doch eigentlich danach handeln sollten. Das heißt, dass die Aggressivität nicht verdeckt und indirekt in Schuldzuweisungen die Beziehung vergiftet, sondern geheime Schuldzuweisungen und Erwartungen ans Tageslicht befördert werden, um die Beziehung zu reinigen. Dazu bedarf es einer gesunden und konstruktiven Auseinandersetzung, die ohne jegliches Quäntchen von Aggressivität einfach nicht zu führen ist.



Was haben sexueller Missbrauch und Essstörungen miteinander zu tun?

Zum Schluss möchte ich noch ein schwieriges, aber für die Bearbeitung der Hintergründe von Essstörungen sehr wichtiges Thema ansprechen. Etwa die Hälfte der in unserer Klinik stationär eingewiesenen Frauen mit einer Essstörung sind sexuell ausgebeutet worden. Außerdem gibt es viele Berührungspunkte mit der Thematik der aggressiven Hemmung.

Der Tatbestand der sexuellen Ausbeutung sieht meistens so aus, dass ein Erwachsener (der Vater, der Stiefvater, der Großvater, der ältere Bruder, der Onkel oder der Nachbar etc.) die Bedürftigkeit eines Kindes nach emotionaler Annahme und Bestätigung aufnimmt, ihr aber mit dem sexuellen Begehren eines Erwachsenen begegnet und moralische Stoppsignale z. B. die Inzestschranke überfährt. Häufig genug spielt die Enthemmung durch ein Suchtmittel eine große Rolle. Die entsprechenden Schuldgefühle des Missbrauchers werden auf vielfältige Weise ausgelebt. Sie werden rationalisiert etwa durch die Bemerkung, das täten alle Väter so, oder der Vater wolle seine Tochter auf das Leben vorbereiten. Sie werden projiziert, indem der Täter die Schuld auf das Kind verlagert und es bezichtigt, "selber schuld zu sein" oder es durch Drohungen zum Schweigen bringt: "Wenn du darüber redest, muss ich ins Gefängnis, und dann stürzt du die ganze Familie ins Elend!" Häufig werden Kinder von Tätern körperlich bestraft, in manchen Fällen auch Morddrohungen ausgesprochen.

Welche Beziehungen bestehen nun zwischen dem sexuellen Missbrauch und der Essstörung? Eine missbräuchliche Beziehung wird auch als eine "vergiftete" Beziehung erlebt. Vielfach sind gerade die Mütter in den Familien, in denen sexueller Missbrauch vorkommt, sehr unempathisch und werden von den Kindern als kalt und abweisend erlebt. Zuwendung scheint es nur beim Vater zu geben, und der Vater nutzt die emotionale Bedürftigkeit seiner Tochter für seine sexuelle Begierde aus. Ebenso wird die Nahrung als "vergiftete" Nahrung empfunden. Als Beispiel möge die Bulimie dienen: Die ersten Bissen können in der Regel noch genossen werden. Wenn allmählich der Magen weh tut, wird die weitere Nahrung "hineingestopft", um schließlich in einem aggressiven Akt erbrochen zu werden. In dieser Fressattacke mit anschließendem Erbrechen wird also die ganze Skala der Gefühle, die auch beim sexuellen Missbrauch eine Rolle spielen, erlebt: die Lust auf etwas Süßes, die Scham, der Ekel, die Angst und schließlich der Schmerz beim aggressiven Erbrechen.



Wo bleibt der Ärger für das zugefügte Leid?

Die Gefühle der Schuld, der Scham und der Angst (vor Entdeckung), die eigentlich dem Täter gehören, werden von seinem Opfer übernommen. Durch diese Annahme, also die Opferhaltung, konnte sich keine gesunde Fähigkeit entwickeln, sich zu wehren oder mit Aggressionen konstruktiv umzugehen. Sie werden vielmehr gegen die eigene Person gewendet in unbegründeten Schuldgefühlen, in suizidalen Phantasien, in selbstschädigendem Verhalten. Der Täteranteil[ 10 ] kommt nur sehr indirekt im Sinne von "versteckten Aggressionen" zum Vorschein. Beispielsweise können Aggressionen indirekt sehr wirksam ausgelebt werden, wenn das therapeutische Team, aber auch Mitpatienten durch Suizidandrohungen oder durch selbstzerstörerische Handlungen (sich zu schneiden, sich mit Streichhölzern oder mit einer Zigarette zu brennen, mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen etc.) unter Druck gesetzt[ 11 ] werden.



Warum hilft die Empfehlung der "Feindesliebe" zunächst nicht weiter?

Aus christlicher Perspektive wird oft die Empfehlung ausgesprochen, das Opfer solle doch dem Täter vergeben, um auf diese Weise endlich inneren Frieden zu bekommen und die bedrängenden Erinnerungen an den Missbrauch zu verlieren. Im Lichte der bisherigen Aussagen mag deutlich geworden sein, dass nur derjenige Schuld vergeben kann, der in der Lage ist, eigene und fremde Schuld voneinander zu unterscheiden. Wer sich im Innersten aber nur selbst schuldig sieht, kann die Aufforderung zur Vergebung emotional kaum von der Rede des Missbrauchers unterscheiden. Das Opfer wird sich automatisch die Schuld wieder selbst aufbürden, und es geht ihm noch schlechter. Es fühlt sich nun von Gott und den Menschen verlassen.

Wenn durch die therapeutische Arbeit die missbrauchte Frau die Schuld in Einklang mit der Realität dort belassen kann, wo sie auch verursacht wurde - das ist bei Missbrauch im Kindesalter und während der frühen Pubertät ausschließlich beim Täter -, wenn ihr indirekte Täteranteile bewusst geworden sind und sie schließlich auch aggressive Impulse gegen den Täter spüren kann, ohne die von ihm projizierten Schuldgefühle zu empfinden, dann dürfte die Vergebung der Schuld möglich sein für diejenigen, die sich jetzt aus eigenem Antrieb für eine seelsorgerliche Begleitung entscheiden. Nach Bearbeitung der unbegründeten, projizierten Schuldgefühle besteht eine Befreiung vor allem darin, die Kette unerträglicher Gefühle des Hasses und der Verachtung, die die missbrauchte Frau vor allem an einen völlig uneinsichtigen Täter bindet, zu durchtrennen.

Der Weg bis zu dieser Befreiung ist beschwerlich und lang. In der Klinik, in die die Patientinnen in einer akuten Phase ihrer Erkrankung eingewiesen werden, erreichen wir dieses Stadium der Bearbeitung kaum. Nur gelegentlich sind z. B. durch eine vorausgegangene längere ambulante Psychotherapie, durch einen einsichtigen Täter etc. die Voraussetzungen vorhanden, eine Versöhnung zu erleben - für Christen die Möglichkeit, in das tiefe Erleben Jesu einzutauchen. Sehr aufschlussreich fand ich in diesem Zusammenhang die Empfehlung der Anonymen Alkoholiker für ein Gebet "gegen den Groll".

Die wenigen Schneisen, die wir durch die komplexen Zusammenhänge im Leben essgestörter Frauen geschlagen haben, mögen bruchstückhaft sein. Dennoch dürfte sich gezeigt haben, dass auf dem Grunde tiefsten Leids Christus - wenn auch über lange Strecken völlig unerkannt - wartet, der sich aus eigenem Erleben im menschlichen Leid gut auskennt.



Fussnoten

[0] Der Autor, Dr. med. Wilfried Haßfeld, Facharzt für Innere Medizin, Oberarzt in der Psychotherapeutischen Abt. an der Klinik Hohe Mark in Oberursel und zuständig für die Konzeption und Durchführung der Therapie mit Essgestörten.

[1] Das heißt, dass er das ihm damals zur Verfügung stehende Instrumentarium der Psychoanalyse auf den Glauben an Gott und auf Gott selbst anwandte und letztlich seiner eigenen Projektion auf sein "Gottesbild" erlegen war, dass nämlich Gott eine Projektion des Vaters an den Himmel sei, eine Feststellung, die in dieser Ausschließlichkeit irreführend ist.

[2] In der Folge wurde bewusst von der essgestörten Frau, der Anorektikerin, gesprochen, weil mehr als 90 % unserer Klientel weiblich ist und wir nicht beide Geschlechtsformen aufführen wollten, um das Lesen zu erleichtern.

[3] Meistens werden die Essstörungen in den weiten Bereich der psychosomatischen Erkrankungen eingeordnet.

[4] Alle intensiven Gefühle werden aus den Beziehungen, vor allem mit den engsten Personen, herausgelöst und an die Nahrung als Suchtmittel gebunden und in der Beziehung zu ihr ausgelebt.

[5] Für Anorektikerinnen müsste hier "bzw. dem Fasten" ergänzt werden.

[6] Meistens wird diese vage Formulierung damit begründet, dass viele suchtkranke Menschen überhaupt keine Beziehung zu Gott haben und nur langsam an solch ein Vertrauen zu Gott herangeführt werden können. Die 12 Schritte sollen auch Menschen mit einer anderen Religion offenstehen. Bezeichnend ist jedoch, dass Bill, der neben Bob die Bewegung - übrigens in Anlehnung an die Oxforder Bewegung - ins Leben rief, selbst zwar seine gravierende Alkoholabhängigkeit durch den Glauben an Gott überwand, aber doch gewisse Berührungsängste mit einer persönlichen Festlegung auf Jesus Christus hatte.

[7] Es handelt sich also um Anorektikerinnen, die dazu übergegangen sind, das Untergewicht dadurch zu halten, dass sie die Nahrung wieder erbrechen. Sowohl wegen des Untergewichtes als auch wegen eines Größenselbst, das sich ausschließlich auf die "Fähigkeit" bezieht, mit ausgeprägtem Untergewicht leben zu können, zählen sie zum Krankheitsbild der Anorexie.

[8] Diese explorative Therapie ist nur dann sinnvoll möglich, wenn gleichzeitig symptomorientierte Maßnahmen zur Veränderung des Essverhaltens z. B. durch eine portionierte Nahrung, Gewichtsvorgaben etc. im Essvertrag vereinbart werden.

[9] Kinder empfinden diese Drohungen nicht nur als ein "Damoklesschwert", sondern sie werden sich in unbewusster Weise auch aktiv darum bemühen, dass sich diese Ankündigungen im Sinne einer Prophetie erfüllen.

[10] In der Regel wird die Aggressivität des Täters besonders dann, wenn sie ausgeprägt ist, von seinem Opfer verinnerlicht. Dieser Täteranteil der Patientin wird - wie oben ausgeführt - nicht direkt, sondern durch eine gezielte, meist provokative Inszenierung der Opferhaltung ausgelebt.

[11] Dieses Agieren wird durch entsprechende Therapieverträge begrenzt, da es die therapeutische Arbeit verunmöglicht und zerstört.

Dieser Artikel ist mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "Weisses Kreuz" Zeitschrift für Lebensfragen entnommen. Sie können gerne diese Zeitschrift auf Spendenbasis abonnieren.



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Ins Netz gesetzt am 12.08.2013; letzte Änderung: 05.08.2017

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