Was ist christlicher "Fundamentalismus"?

Ist christlicher "Fundamentalismus" gewalttätig?

von Dr. Friedhelm Jung [ 1 ]


Als neues Grundübel in der Welt gilt nach den Anschlägen in den USA der sogenannte "Fundamentalismus". Beschränkte sich die Kritik zunächst auf radikale Moslems, so hat sie sich ausgeweitet auf "Fundamentalisten" in allen Religionen und durch die jüngste Spiegel Ausgabe, auch auf solche unter den Protestanten. Dem wird von landeskirchlicher wie teilweise auch freikirchlicher Seite beigepflichtet. So hat, der Leiter des Konfessionskundlichen Instituts des Evangelischen Bundes, Michael Plathow (Bensheim), Mitte Oktober erklärt, "es gelte den Fundamentalisten, gleich welcher Religion, zu widersprechen". Nach Worten des Generalsekretärs des Baptistischen Weltbundes, Denton Lotz vertreten "Fundamentalisten", einen exklusiven Anspruch. Würde man ihnen folgen, wäre ein Religionskrieg unausweichlich. Doch was ist, eigentlich christlicher "Fundamentalismus"? Im deutschsprachigen Bereich bezeichnen sich selbst schon allein wegen der Verwechslungsgefahr mit radikalen Moslems nur wenige als "Fundamentalisten", gleichwohl werden theologisch konservative Christen mittlerweile als solche diffamiert. Im folgenden beschreibt der Theologe Dr. Friedhelm Jung, Dozent am Bibelseminar Bonn, die Position christlicher "Fundamentalisten". Sie gehören zur weltweiten, evangelikalen, Bewegung, auch wenn längst nicht alle Evangelikale "Fundamentalisten" sind.

Obgleich der Begriff "christlicher Fundamentalismus" durch einen abwertenden Gebrauch in säkularen wie auch vielen christlichen Medien weithin negativ besetzt ist und zeitweise als Keule gegen bibeltreue Christen eingesetzt wird, beschreibt er zutreffend das Glaubensverständnis von Millionen Christen weltweit. Christliche "Fundamentalisten" finden sich in nahezu allen Konfessionen. Es sind Menschen, deren Glaube auf dem Fundament der Bibel - und hier besonders des Neuen Testamentes gründet. Sie akzeptieren die Heilige Schrift als das wahre und absolut verläßliche Wort Gottes und lehnen Bibelkritik ab. Ob der Reformator Johannes Calvin, der China-Missionar Hudson Taylor oder der Baptistenpastor Charles H. Spurgeon - sie alle waren "Fundamentalisten".


Das Fundament - die Bibel

Der Begriff "Fundamentalist" taucht Anfang des 20. Jahrhunderts in kirchlichen Kreisen in den USA auf. Als dort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts biblische Lehren, wie die Gottessohnschaft Jesu Christi, sein Sühnetod und seine leibliche Auferstehung, in Zweifel gezogen wurden, protestierten konservative Theologen aus unterschiedlichen Konfessionen gegen die "liberalen" Überzeugungen. Auf Konferenzen ("Niagara-Bibelkonferenzen") kämpfte man für die historische Glaubwürdigkeit der Bibel und publizierte von 1910 an eine Buchreihe mit dem Titel "The Fundamentals" (die Fundamente). Darin wurde der Begriff "fundamentals" für Elemente der traditionellen christlichen Lehre verwendet, wie sie in allen Kirchen seit den Zeiten der Apostel akzeptiert sind:

  • Die Bibel gilt als unfehlbare und wahrhaftige Wort Gottes;
  • Jesus Christus ist der alleinige Erlöser;
  • Jesus Christus ist leiblich auferstanden;
  • Jesus Christus wird sichtbar und leiblich wiederkommen;
  • der Mensch wird allein aus Gnaden gerettet;
  • alle Menschen werden auferstehen - entweder zum ewigen Leben oder zur ewigen Verdammnis;
  • Gott wird die Welt durch die Neuschöpfung des Universums vollenden.

Ganz besonders setzten sich die "fundamentals" für die Glaubwürdigkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel ein: Wenn Gott in diesem Buch geredet hat, dann muß es zuverlässig und wahr sein; denn Gott verbreitet keine Irrtümer. Bis heute ist genau dies das Kennzeichen christlicher "Fundamentalisten".

Sie halten an folgendem fest:

  • 1. Die Bibel ist das irrtumslose Wort Gottes.
  • 2. Auch naturkundliche und geschichtliche Aussagen der Bibel sind zuverlässig.
  • 3. Eine Bibelkritik ist generell abzulehnen.
  • 4. Die Bibel ist heilsgeschichtlich auszulegen, d.h. das Alte Testament wird vom Neuen Testament überboten.

Dies sind z.B. Bewegungen, die sich in Deutschland und der Schweiz als "fundamentalistisch" im Sinne der obigen Punkte verstehen:

  • 1. Brüdergemeinden (zweitgrößte freikirchliche Bewegung in Deutschland)
  • 2. Die rund 200 unabhängigen Gemeinden der Konferenz für Gemeindegründung (KFG)
  • 3. Baptistische und mennonitische Aussiedlergemeinden
  • 4. Evangelische Gesellschaft für Deutschland (und teilweise noch andere landeskirchliche Gemeinschaftsverbände)
  • 5. Teile des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, der Pfingst- und charismatischen Bewegung und der Bekenntnisbewegung "Kein anderes Evangelium"
  • 6. In der Schweiz: Freie Missionsgemeinden, die Freien evangelischen Gemeinden und der größte Teil der Chrischona-Gemeinden

Diese Zentren sind von der völligen Zuverlässigkeit der Bibel überzeugt und lehnen Kritik an der Heiligen Schrift entschieden ab.


Die Bibel ist zuverlässig

Unabhängig von der US-amerikanischen "Fundamentalismusbewegung" gab es auch in Europa seit dem 19. Jahrhundert christliche Kreise, die für die Wahrheit der Bibel eintraten. Überkonfessionelle Bewegungen wie der 1894 von lutherischen Theologen gegründete "Bibelbund" kämpfen seit mehr als hundert Jahren für die Zuverlässigkeit der Heiligen Schrift. Nach dein Zweiten Weltkrieg kamen sich die kontinentaleuropäischen und die nordamerikanischen christlichen "Fundamentalisten" näher und erarbeiteten Dokumente wie die Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel, die bis heute Bekenntnisgrundlage zahlreicher theologischer Ausbildungsstätten in Deutschland und der Schweiz ist. Über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannte Einrichtungen mit "fundamentalistischem" Bibelverständnis sind die Freie Theologische Akademie in Gießen sowie die Staatsunabhängige Theologische Hochschule in Riehen bei Basel.


Extremisten bringen den "Fundamentalismus" in Verruf

Allerdings sind Teile der christlichen "Fundamentalisten" der USA in jüngster Zeit durch einige Extremisten in ihren Reihen in Verruf geraten. Indem sie zum Beispiel mit Gewalt die Schließung von Abtreibungskliniken erreichen wollen, pervertieren sie den christlichen "Fundamentalismus". Es handelt sich bei diesen Einzelfällen ohne Zweifel um bedauerliche Rückfälle in alttestamentliche Verhaltensweisen, die von Jesus Christus unmißverständlich untersagt worden sind. Während das Alte Testament - ähnlich wie der Koran - die Einheit von Staat und Religion lehrt und darum Vergeltung und Rache kennt, lehnt Jesus und das ganze Neue Testament das "Auge um Auge, Zahn um Zahn"-Prinzip ab und lehrt, daß Staat und Kirche getrennt sind und der einzelne Christ sich nicht rächen und keine Vergeltung üben, sondern seinen Feind lieben soll. Daß sich viele Vertreter des Christentums an Christi Lehre nicht gehalten haben - man denke nur an die Kreuzzüge oder die Inquisition - ist zutiefst bedauernswert, läßt aber den Schluß nicht zu, die christliche Lehre als solche sei militant.


Der große Unterschied

Daß der Staat auch nach neutestamentlicher Sicht Gewalt ausüben muß, steht außer Zweifel (vgl. Römer 13) und wird auch von "Fundamentalisten" akzeptiert. Doch wenn ein einzelner Christ mit Gewalt seine Überzeugungen durchsetzen will, tritt er in einen Gegensatz zur Lehre Christi. Und genau hier liegt der Unterschied zu islamischen Fundamentalisten. Gewaltanwendung gegen Andersgläubige wird vom Koran gedeckt, ja gefordert, vom Neuen Testament aber untersagt. Weder in Deutschland noch in der Schweiz sind christliche "Fundamentalisten" bekannt, die ihre Positionen mit Gewalt durchsetzen wollen oder als antidemokratisch zu gelten haben. Dem christlichen "Fundamentalismus" geht es einzig darum, die Bibel als absolut wahres Wort Gottes zu verteidigen. Dieser "Fundamentalismus" ist in keiner Weise für eine Gesellschaft gefährlich.

Wer absolute Überzeugungen hat - ob politischer, philosophischer oder religiöser Natur - stellt so lange keine Gefahr für eine Gesellschaft dar, wie er andere Meinungen toleriert. Nur wer seine Ansichten anderen aufzwingt, wird zur Gefahr. Der christliche "Fundamentalismus" ist - objektiv gesehen - für eine Gesellschaft nützlich. Denn er vertritt ethische Positionen, auf denen auch unser Gemeinwesen aufgebaut ist, die aber mit dein zurückgehenden Einfluß des christlichen Glaubens mehr und mehr verschwinden: Achtung und Respekt gegenüber dem anderen; Schutz des Schwachen und Bedürftigen; Liebe für Freund und Feind.


[ 1 ] Der Autor, Dr. Friedhelm Jung (Bornheim bei Bonn), ist Dozent am Bibelseminar Bonn.


Weiterer Artikel zum Thema: Generalangriff gegen den biblischen Fundamentalismus © Dr. Samuel Külling



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Ins Netz gesetzt am 22.06.2002; letzte Änderung: 29.12.2016
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