Alter - Zeit der Schwermut?!

von Karl-Heinz Espey [ 1 ]



1. Wenn der Bogen sich senkt

"Ich war immer aktiv", erzählte mir eine Frau um die Siebzig. "Das Leben hat mir Spaß gemacht, weil ich leistungsfähig war und viel erreicht habe: Mein Mann und ich haben eine glückliche Ehe geführt und wir brachten es zu bescheidenem Wohlstand, obwohl wir mit nichts begonnen haben. Unsere drei Kinder sind wohl geraten. Sie leben in geordneten Verhältnissen und bekleiden gesicherte Positionen. Ich selber habe mich jahrzehntelang ehrenamtlich betätigt und auf diese Weise politisch und kulturell einiges bewegen können. Kurz: Ich gehörte bis vor kurzem zu den glücklichen Menschen, denen Vieles gelang und denen es an nichts fehlte. - Bis vor zwei Jahren mein Mann plötzlich verstarb und ich von heute auf morgen alleine dastand. Von diesem Schock habe ich mich bis heute nicht erholt. Ich komme mit meinem Leben einfach nicht mehr zurecht. Es ist für mich eine riesige Last, die mir zu schwer geworden ist. Zu allem Überfluss haben sich körperliche Gebrechen eingestellt. Seit mehr als einem Jahr leide ich unter starken Rückenschmerzen, die mir den Schlaf und alle Energie rauben. Manchmal bin ich wie gelähmt, so dass ich nicht einmal mehr die alltäglichen Kleinigkeiten wie einkaufen und putzen erledigen kann. Und die Kinder wohnen weit weg. Sie sind beruflich und familiär ausgelastet, so dass sie keine Zeit für mich haben. Ich frage mich, wozu ich überhaupt noch da bin? Zu was bin ich noch nütze, was bin ich noch wert?" Und was soll mit mir werden, wenn die Kräfte weiter nachlassen und ich überhaupt nicht mehr kann?

Das Alter bringt unausweichliche Veränderungen mit sich, und längst nicht alle gefallen uns. Jene Siebzigjährige meisterte ihr Leben bis vor wenigen Jahren tatkräftig und engagiert. Aber seit dem Tod ihres Mannes stößt sie an ihre körperlichen und seelischen Grenzen und sieht einer ungewissen, beängstigenden Zukunft entgegen. Sie fragt: "Zu was bin ich noch nütze, was bin ich noch wert?" - Eine bedrückende Frage, hinter der ich die Überzeugung vermute, dass mein Wert in dem liegt, was ich leiste. Demzufolge empfinde ich mein Leben mit abnehmender Kraft als immer wertloser. Viele ältere und alte Menschen leiden wie geprügelte Hunde, wenn sie nicht mehr wie früher können oder sogar auf Hilfe angewiesen sind. Dabei vergessen sie, dass wir Menschen mehr sind als messbare Taten, und dass wir unseren Wert aus einer anderen Quelle schöpfen können: Ich bin wertvoll, weil Gott mich geschaffen und mir persönlich begegnen will. Und ich bin wertvoll als Gegenüber meiner Mitmenschen. Martin Buber stellt treffend fest: "Der Mensch wird erst am Du zum Ich." Mit Gott und miteinander zu leben, ist viel feiner und tiefer, als dass es mit den Worten Aktivität und Passivität erfasst werden könnte.

Allerdings ist diese Überzeugung unpopulär. Leistung ist gefragt, dementsprechend schätzen und hofieren wir die Tüchtigen, die Leistungsfähigen. Diejenigen, die nichts oder nichts mehr leisten können, sind wertlos und deshalb zu vernachlässigen. Leider blenden wir mit unserem Leistungsdenken aus, dass die Mitmenschen, mit denen und für die wir doch eigentlich leben, zu kurz kommen. Und wir selber auch! Wenn der Ehemann und Vater vor lauter Arbeit keine Zeit mehr für seine Frau und seine Kinder hat, dann vernachlässigt er eine wesentliche Lebensaufgabe, die ihn nicht zuletzt auch zu sich selbst finden lassen könnte. Wenn eine Ehefrau und Mutter nichts anderes im Kopf hat als eine perfekte Hausfrau zu sein oder beruflich vorwärts zu kommen, dann wird ihr Engagement abgehoben bzw. getrennt von ihrer Familie stehen. Sie wird über kurz oder lang vereinsamen und sich unter Umständen noch mehr in die Arbeit stürzen, denn die ist ja ihr Leben, aus ihr schöpft sie ihren Wert.

Und wenn irgendwann, spätestens jenseits der Fünfzig, die Spannkraft nachlässt? Wenn ich merke, dass ich nicht mehr so unbekümmert die Nächte durchmachen, nicht mehr so dauerhaft Höchstleistungen erbringen, nicht mehr alle Probleme so gut wegstecken kann wie früher? Wenn ich meinen Zenit überschritten habe und sich der Bogen allmählich senkt? Dann bleibt mir gar nichts anderes übrig als mich bzw. meine Werteskala neu zu sortieren. Oder ich mache weiter wie bisher und riskiere, mir damit körperlich und seelisch zu schaden, mich sozusagen in einen persönlichen Bankrott hineinzumanövrieren.

Ob wir es hinkriegen, uns angesichts zunehmenden Alters und nachlassender Kräfte neu auszurichten, das wird wesentlich davon abhängen, woraus wir bisher unseren Wert geschöpft haben. Wohl dem, der sich schon seit Jahren aufgemacht hat, am Du Gottes und seines Nächsten zum Ich zu werden anstatt sich an seiner Leistung zu messen bzw. messen zu lassen. Er wird mit der unausweichlichen Tatsache, dass sich sein Lebensbogen allmählich senkt, besser zurechtkommen und die Ängste angesichts enger werdender Begrenzungen mit Gottes Hilfe und der ermutigenden Begleitung anderer Menschen bewältigen können.


2. Alter - nicht Abstieg, sondern Wandel

Das Bild vom sich senkenden Lebensbogen legt nahe, das Alter als eine Lebensphase zu verstehen, in der wir sozusagen absteigen. Biologisch betrachtet, trifft das auch zu, wobei davon schon die über 26-jährigen betroffen sind. "Es tut weh, zu merken, dass man alt wird", sagte ein dreißigjähriger Spitzenathlet, der bei einem Wettkampf von einem 19-jährigen Konkurrenten auf den zweiten Platz verwiesen worden war.

Trotzdem ist es m.E. unangemessen, von einem Auf- bzw. Abstieg der Lebenslinie zu sprechen, besonders, wenn man den Menschen als geistbestimmtes Wesen in der Einheit von Leib und Seele sieht. Dann erkenne ich in meinem Leben einen kontinuierlichen Umbau, einen Gestalt- und Beziehungswandel, durch den sich Schwerpunkte verändern. Jeder Wandel bringt neue Aufgaben und Möglichkeiten mit sich, die angenommen, verarbeitet und schließlich wieder losgelassen werden wollen. So gesehen, ist das Alter keine Katastrophe, sondern ein Schritt auf einen neuen Weg, der zwar beschwerlicher sein kann als die bisherigen, aber dennoch seinen eigenen Wert hat.

Er kann z.B. darin liegen, dass ich mich mehr und mehr von meinem Konkurrenz- und Geltungsstreben löse und dafür andere gelten lasse, indem ich mich ihnen zuwende, sie fördere, unterstütze, begleite, damit sie gestärkt werden und weiterkommen. Das ist zweifellos eine große Herausforderung, denn etwas zu gelten, dafür sind wir auch im Alter noch empfänglich.

Alte Menschen haben im Laufe ihres Lebens durch Versuch und Irrtum jede Menge Erfahrungen gesammelt, die in konkreten Entscheidungssituationen ein bewahrendes Element sein können. Sie wissen, dass manche Probleme sich nicht dadurch lösen, dass man sie schnell erledigt; ganz im Gegenteil: überhastete Problemlösungen schaffen u.U. neue, größere Probleme. Deshalb sind lebenserfahrene Menschen wichtig, die besonnen reagieren und z.B. vor einer Entscheidung sagen: "Lasst uns noch ein bisschen abwarten. Wir wollen noch eine Nacht darüber schlafen."

Zum Wandel gehört, dass aus Eltern Großeltern werden, und die können im Leben ihrer Enkel eine gewichtige Rolle spielen. Viele Eltern haben viel zu wenig Zeit für ihre Kinder. Um über die Runden zu kommen, müssen beide Geld verdienen. Da bleibt ihnen fast keine Zeit mehr mit ihren Kindern zu singen, zu spielen, Ausflüge zu machen, ihnen Geschichten vorzulesen und ihre vielen Fragen zu beantworten. Wenn dann Großeltern zur Stelle sind, die diese Lücke füllen und sich im Einvernehmen mit den Eltern um die Kinder kümmern, ist das für alle Beteiligten hilfreich.

Der Wandel kann sich im Alter auch so vollziehen, dass Menschen, die in jüngeren Jahren von anderen getragen wurden, nun andere tragen. Sie nehmen sich ihrer Probleme an und helfen, sie zu überwinden. Wer selbst erfahren hat, wie wohl es tut, jemanden an seiner Seite zu haben, der mitträgt, der kann andere tragen, ohne überheblich zu sein. Er kann Rückhalt bieten, ohne zu moralisieren und Druck auszuüben. Und er kann loslassen, in die Eigenständigkeit entlassen, wenn sich seine Aufgabe erledigt hat.

Aus meiner Sicht muss das Alter trotz aller Begrenzungen keineswegs die Lebensphase des Abstiegs sein. Sofern sie als Zeit des Wandels angenommen und genutzt wird, kann sie sich segensreich für andere und für mich selbst auswirken. Denn wenn es stimmt, dass der Mensch am Du zum Ich wird, finde ich mich am ehesten, indem ich mich anderen zuwende und mich ihnen mitteile. Das ist, sofern meine Kräfte dazu ausreichen, auch noch im Alter möglich und enorm wertvoll; denn alte Menschen haben eine Menge weiterzugeben.


3. Probleme alter Menschen

Allerdings erleben viele, vielleicht sogar die meisten Menschen, ihr Alter als eine eher beschwerliche Phase, die überlagert ist von den dunklen Seiten des Lebens. Sie sind weit davon entfernt, die dritte Lebensphase als Zeit des Wandels zu erleben. Sie erleben Ihre alten Tage als Abstieg, als geminderte Lebensqualität. Obendrei müssen sie oft Schlag auf Schlag Verluste hinnehmen. Vom Wandel und den Chancen des vorgerückten Lebensalters findet sich bei ihnen keine Spur.


3.1. Verluste Schlag auf Schlag

Viele müssen mit dem Verlust ihrer Gesundheit fertig werden. Was früher leicht von der Hand ging, ist heute eine unsägliche Tortur. Viele Frauen leiden darunter, dass sie ihre körperliche Attraktivität verloren haben. Viele Männer zweifeln aufgrund ihrer scheinbar abnehmenden Potenz an ihrer Männlichkeit.

Noch schwerer als die körperlichen Einbrüche, können alten Menschen ihre seelischen Veränderungen zu schaffen machen. Man ist längst nicht mehr so begeisterungsfähig wie in jungen Jahren. Es wird vollkommen gleichgültig, ob z.B. am vergangenen Samstag Borussia Dortmund oder München 1860 gewonnen hat. Das Weihnachtsfest weckt bestenfalls wehmütige Erinnerungen an längst vergangene Tage. Man ist schneller müde, weniger wendig, das Interesse an aktuellen Ereignissen erlahmt, so dass es überhaupt keine Rolle spielt, ob bei uns z.B. ein Regierungswechsel stattgefunden hat oder in China ein Sack Reis umgefallen ist.

Aber diese Erscheinungen sind nur der Auftakt von Schlimmerem. Die negativen Erlebnisse häufen sich und können eine akute Depression auslösen: Eine verheiratete Frau muss hilflos zusehen, wie ihr Mann nach über dreißig Ehejahren jüngeren Frauen hinterhersteigt. Das letzte oder einzige Kind heiratet und zieht weit weg. Ein Sechzigjähriger verliebt sich in eine Vierzigjährige und handelt sich eine harsche Abfuhr ein. Mit einem alten Knacker will sie nichts zu tun haben.

Noch einschneidender wirken die Verluste von nahestehenden Menschen. Die Eltern sterben, gute Freunde, vielleicht der Ehepartner. Dann ist vieles wie tot: Zukunftspläne, harmonische Urlaube, gemeinsame Erlebnisse. Man zieht sich zurück, zumal die anderen mit sich selbst beschäftigt sind und man sowieso nicht mehr weiß, wozu man noch da ist und wohin man gehört.


3.2. Der Pensionierungsbankrott

Aus dem Berufsleben auszuscheiden, ist für jeden Menschen ein tiefer Einschnitt. Das Leben ändert sich total. Viele Betriebe verabschieden ihre Mitarbeiter im Rahmen einer kleinen Feier, bei der dann wohlwollende Reden gehalten werden. Dabei fällt neben den obligatorischen Dankes- und Lobesworten öfter die Bemerkung, ab jetzt könne der Ruheständler sein Leben in vollen Zügen genießen. Denn er sei ja nun endlich frei zu tun und zu lassen, was er wann, mit wem tun möchte. Mancher jüngere Kollege mag den Ausscheidenden beneiden: "Ach, wär’ ich doch auch schon so weit." Aber vor dem frischgebackenen Rentner liegt jetzt die schwierige Aufgabe, den Freiraum zu füllen und seinem Leben noch einen befriedigenden Inhalt zu geben. Worin der besteht, ist ganz egal, Hauptsache er ist zufrieden und hat das Gefühl, noch für etwas gut zu sein. Wer sich mit dieser Frage erst dann beschäftigt, wenn er aus dem Berufsleben ausgeschieden ist, steht mit leeren Händen da und wird es schwer haben, sich in seinem neuen Lebensabschnitt zurechtzufinden. Denn er hat ja nicht vorgearbeitet.

Gestatten Sie mir bitte an dieser Stelle einen kurzen heiteren Einschub aus dem Film "Papa ante Portas" von Loriot. Herr B., Einkäufer eines größeren Betriebes, wird von jetzt auf gleich in den Vorruhestand entlassen. Er packt seine Tasche und geht sofort nach Hause. Es ist Vormittag. Seine Frau ist gerade dabei das Wohnzimmer zu saugen. Als er in der Tür steht, schaut sie auf und fragt mit einem gewissen Entsetzen in der Stimme: "Was willst du denn hier?" Er: "Ich wohne hier!" - Darauf sie: "Aber doch jetzt nicht!"

So kann’s gehen. Und für die Betroffenen ist es eine Katastrophe, denn die wenigsten Menschen bringen es fertig, mit 60/65 Jahren noch etwas ganz Neues anzufangen. Im Alter lebt man von der Substanz. Im Alter greift man gerne auf Gewohntes, Vertrautes zurück. Wenn man sich aber jahrzehntelang einseitig auf seinen Beruf fixiert hat, steht man nach der Pensionierung mit nichts da: keine Interessen, keine Hobbys, kein Freundeskreis und ein Ehepartner, der sein Leben so eingerichtet hat, dass er ganz gut alleine zurechtkommt. Man ist sozusagen bankrott. Mit dem Tag der Pensionierung wird einem der psychische Sauerstoff abgeschnitten.

Von außen werden solche Menschen dann so beurteilt: "Jetzt weiß er nicht mehr, was er mit sich anfangen soll. Er hat keine Aufgabe mehr, er langweilt sich." Das stimmt. Aber viele sind noch viel tiefer getroffen. Sie fühlen sich verletzt oder beleidigt, denn beruflich zählen sie nicht mehr. Sie haben nichts mehr zu sagen. Und erst jetzt merkt sie, wie wichtig es ihnen war zu gelten, etwas zu sagen zu haben, vorgesetzt zu sein. Von einem Tag zum anderen gehören sie nicht mehr dazu. Ein anderer hat den Platz besetzt, und der macht seinen Job gut! Und das schlimmste, was einem Ruheständler passieren kann: er besucht seine alte Arbeitsstätte und stellt fest, der Betrieb läuft wie eh und je; keine Lücken, keine Pannen, zumindest nicht mehr als früher. Die Kolleginnen und Kollegen kommen ohne ihn bestens zurecht. Sie haben kaum Zeit für ihn. Er steht ihnen im Wege. Er stört!

Das ist exakt die Konstellation, die einen akuten psychischen Zusammenbruch herbeiführen kann. Er dauert so lange, bis der Sturz akzeptiert und aufgefangen wird; jener tiefe Sturz vom Vorgesetzten zum Männchen mit irgendwelchen Zipperlein, dessen Wort gewichtig war, der aber jetzt nichts mehr zu sagen hat, zumal die Ehefrau sich in ihren Hoheitsbereich, den Haushalt, von ihm nicht reinreden lässt. Wenn er Glück hat, wird er bald begreifen, dass es idiotisch von ihm war, seine berufliche Situation dermaßen hoch anzusiedeln und sich auf den Weg machen, seine eigentliche Berufung und dann auch seinen Wert zu entdecken, und zwar in dem Maße, wie er sich dem Du zuwendet.

Sie haben gemerkt, dass ich bisher ausschließlich vom Pensionierungsbankrott des Mannes gesprochen habe. Wie ist das denn bei den Frauen? Erleben die auch diesen starken, krisenbehafteten Einschnitt?

Erhebungen über das Leben alter Menschen haben gezeigt, dass viele Frauen allein durch die Haushaltsführung voll befriedigt sind. Außerdem scheinen sie im allgemeinen mehr Kontakte mit anderen Menschen zu haben. Im allgemeinen pflegen sie auch mehr schriftliche und telefonische Kontakte als die Männer. Mit anderen Worten, ihnen gelingt es viel besser als den Männern, ein mehr kontemplatives Leben zu führen, zumal sie i.d.R. auch nicht so sehr aufs Sozialprestige setzen. Sie kommen besser mit sich selbst zurecht, sind vielseitiger interessiert und somit eher in der Lage, die Umbrüche im Alter zu verkraften.


3.3. Ehekrisen

Trotzdem ist für viele Frauen das Problem älter zu werden nicht unerheblich. Mit Beginn des Klimakteriums wird ihnen unübersehbar aufgezeigt, dass sie nicht mehr jung sind. Und all jene Frauen, deren Kinderwunsch unerfüllt geblieben ist, müssen sich dann endgültig mit der Tatsache arrangieren, das sie niemals Mutter werden. Viele Frauen ziehen sich in dieser Lebensphase von ihrem Ehepartner zurück, vor allen Dingen in sexueller Hinsicht. Sie meinen, für ihren Mann nicht mehr attraktiv zu sein. Daraus entwickeln sich häufig Spannungen. Denn die sexuellen Bedürfnisse des Mannes verändern sich nicht. Auch im Alter hat er noch Lust mit seiner Frau zu schlafen. Die sexuelle Aktivität des Mannes hört normalerweise überhaupt nicht auf. Wenn dann die Ehefrau signalisiert: "Ich brauche das nicht mehr, mir sind andere Dinge wichtig: z.B. Zärtlichkeit, Aufmerksamkeit und seelischer Gleichklang", dann kann das eheliche Miteinander schwierig werden.

Ein großer Teil der Krisen in alternden Ehen bricht auf, wenn einer den anderen verändern oder treffender gesagt, hinbiegen will. Die Kinder sind aus dem Hause. Jetzt ist nur noch der Partner da, den man erziehen kann, wobei viele die eigenen Schwächen in den anderen hineinsehen und sie bekämpfen. Dass sich daraus heftigste Machtkämpfe bis hin zu körperlicher Gewalt entwickeln können, liegt auf der Hand.

Jede Ehe hat ihre eigene Geschichte. Die Alterskonflikte hängen nicht zuletzt vom bisherigen Verlauf des gemeinsamen Lebens ab. Wie die Eheleute bisher miteinander umgegangen sind, wie sie ihr gemeinsames Leben gestaltet bzw. verunstaltet haben, das schlägt sich jetzt in ihrem Mit- oder auch Gegeneinander nieder. Da ist ein pensionierter Studienrat, der jahrzehntelang nur seine schulischen Aufgaben im Kopf hatte. Haushalt und Kindererziehung besorgte seine Frau. Jetzt, wo er alt geworden ist, entdeckt er seine praktische Ader. Und so kommt es fast täglich zu Reibereien, weil er ihr ständig in Bereiche reinredet, die sie bisher sehr gut alleine verantwortet hat. Sie gibt ihm zu verstehen, er solle sich bitteschön zurückhalten und sich anderweitig betätigen, aber er lässt sich nicht abwimmeln. Stattdessen kritisiert er in schulmeisterlicher Manier ihre Arbeitseinteilung. Er weiß alles besser, hinterfragt also ihre hausfrauliche Kompetenz und wertet sie auf diese Weise ab. Sie wehrt sich, indem sie ihm die kalte Schulter zeigt und ihn auflaufen lässt. Beide Partner sind voneinander enttäuscht. Beide haben das Gefühl, in den Augen des anderen nicht zu genügen. Das führt zu Feindseligkeiten, manchmal zu offenem Hass, über den beide erschrocken sind.

Da ist ein Handwerksmeister, der über viele Jahre immer mehr als genug zu tun hatte. Er setzt sich mit dem Tag seiner Pensionierung nicht ruhig in den Ohrensessel, sondern steckt immer noch voller Tatendrang. Er macht Pläne, will endlich all die Ideen umsetzen, zu denen er bisher nie gekommen ist. Ganz anders seine Frau. Sie freut sich auf die gemeinsame Zeit, die sie am liebsten mit Wanderungen, Reisen und Gesprächen füllen möchte. Dafür ist ihr Mann aber überhaupt nicht zu haben. Auch dieses Paar wird sich gegenseitig enttäuschen. Aus Enttäuschungen erwachsen Aggressionen. Man behakt sich und macht sich gegenseitig das Leben schwer. Oder man zieht sich zurück, jeder in seine Welt - und wird sich immer fremder.


4. Einübung in den Ruhestand

Ob wir’s wahrhaben wollen oder nicht, der Ruhestand will vorbereitet, er will eingeübt werden, anderenfalls missrät er zum großen Frust und führt in entsprechende Beziehungs- und seelische Krisen bis hin zur Depression.

Aber wie kann ich meinen Ruhestand und damit auch die letzte Phase meines Lebens so gestalten, dass sie lebenswert ist? Sowohl diejenigen, die am Bisherigen festhalten und nicht loslassen wollen, als auch diejenigen, die sich danach sehnen, aus der Tretmühle unzähliger Pflichten auszusteigen, um endlich das tun und lassen zu können, was sie wollen, befinden sich m.E. auf einem falschen Dampfer. Vielleicht können wir aus der Bibel lernen, was es bedeutet in den Ruhestand einzugehen.

Da lesen wir am Ende des ersten Schöpfungsberichtes (Gen 2,1-3): "So entstanden Himmel und Erde mit allem, was lebt. Am siebten Tag hatte Gott sein Werk vollendet und ruhte von aller seiner Arbeit aus. Und Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn zu einem heiligen Tag, der ihm gehört, denn an diesem Tag ruhte Gott, nachdem er sein Schöpfungswerk vollendet hatte." - Gerhard von Rad sagt dazu in seiner Auslegung (ATD), dass wir die Bedeutung dieser Ruhe nur erfassen können, wenn wir vom Bund Gottes mit seinem Volk Israel ausgehen. Gott hat mit Israel einen Vertrag geschlossen, damit es vor aller Welt Zeuge seiner Schöpfung sei. "Die Welt, in der wir Menschen alle leben, hat ihren Bestand und Sinn darin, dass sie Werk des Gottes ist, dessen Treue wir als Kinder seines Bundes erfahren." Mit diesem Zeugnis soll Israel die Völker auf denselben Weg weisen. Die Ruhe, von der 1. Mose 2 berichtet, ist das Licht, das über der ganzen Schöpfung ausgebreitet ist, "kein Anhängsel an den Schöpfungsvorgang." Und weiter: "Die Aussage steigt gleichsam empor in den Raum Gottes selbst und bezeugt, dass bei dem lebendigen Gott Ruhe ist." Hier ist die Rede "von der Vorbereitung eines hohen Heilsgutes für Welt und Menschen, von einer Ruhe, vor der Jahrtausende abwärts ziehen wie Ungewitter" (Novalis).

Der Schreiber des Hebräerbriefes bezeugt: "So steht die versprochene Ruhe, der große Sabbat, dem Volke Gottes noch bevor. Denn wer in die Ruhe Gottes gelangt ist, ruht auch selbst aus von seiner Arbeit so wie Gott ausruht von der seinen" (4,9f). - Das muss nicht Nichtstun bedeuten, aber ein Ende der Unruhe, von der ich getrieben werde, solange ich meinen Selbstwert und Lebenszweck aus meiner Leistung beziehe. Über einer Todesanzeige stand der Satz: "Er hat immer seine Pflicht getan." Wer immer nur seine Pflicht tut, der kann nicht zur Ruhe kommen, auch im Alter nicht. Ihm fehlt die Zeit für Gott, für seinen Nächsten und für sich selbst.

Ich erlebe immer wieder alte Menschen, die bedrückt sind über das, was sie in ihrem bisherigen Leben schlecht gemacht oder gar versäumt haben. Am liebsten würden sie noch einmal ganz von vorne beginnen, um alles besser zu machen. Aber das ist unmöglich. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Vergebung Jesu Christi in Anspruch nehmen. Wir haben tatsächlich eine Menge versäumt, vieles falschgemacht und sind auf diese Weise an Gott, an unserem Nächsten und an uns selber schuldig geworden. Auch diese Schuld hat Christus auf sich genommen. Er entlastet uns von dem, was wir in unserem Leben schuldig geblieben sind. Wer diesen Dienst Christi an sich geschehen lässt und loslässt von dem, was beim besten Willen nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, kann seinen Lebensabend mit einer großen inneren Freiheit und Gelassenheit gestalten. Er kann von seiner Arbeit ausruhen, zur Ruhe kommen und dankbar auf Gottes vergebende Fürsorge zurückschauen.

Und wenn ich darüber hinaus erlebt habe, dass trotz allem, was ich in meinem Leben versäumt, falsch gemacht oder vernachlässigt habe, vieles gut geworden ist, dass Gott also auch auf krummen Lebenslinien gerade geschrieben hat, kann ich gelassen den Abend meines Lebens begehen.

Alter - Zeit der Schwermut? - Zweifellos ist es nicht die einfachste Lebensphase, aber sie muss keineswegs von Schwermut gezeichnet sein. In dem Maße, wie ich begreife, dass weder meine Leistung noch mein Einfluss entscheidend sind, sondern die Hinwendung zum Du, zu meinem Nächsten und zu Gott, der mich mit seiner vergebenden Treue begleitet, komme ich zur Ruhe und lebe zuversichtlich.



[ 1 ] Der Autor, Karl-Heinz Espey, Pastor, Generalsekretär des Weißen Kreuzes in Deutschland.

Dieser Artikel ist mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "Weisses Kreuz" Zeitschrift für Lebensfragen entnommen. Sie können gerne diese Zeitschrift auf Spendenbasis abonnieren.



| zum Textbeginn |


Copyright (C) 2002 by Weisses Kreuz  Email:weisses-kreuz@t-online.de
Alle Rechte vorbehalten. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.
Dieses Papier ist ausschließlich für den persönlichen Gebrauch bestimmt.
URL: http://www.efg-hohenstaufenstr.de/downloads/texte/alter.html
Ins Netz gesetzt am 12.07.2002; letzte Änderung: 27.12.2016

Home | Links | Downloads | Webmaster