Das letzte Passahmahl

Ein chronologischer Abriss

Was passiert eigentlich beim letzten Abenmahl? Welche Reihenfolge erkennen wir in der Bibel? Was bedeutet das für alle Beteiligten? Was können wir aus dem gesamten Geschehen lernen?

Der Ablauf nach den biblischen Berichten

Lukas 22, 14: "Und als die Stunde gekommen war, legte er sich zu Tisch und die Apostel mit ihm.", Lukas 22, 17: "Und er nahm einen Kelch, dankte und sprach: Nehmt diesen und teilt ihn unter euch!" Das war der erste Becher Wein, mit dem die Passah-Liturgie eröffnet wurde. Das Oberhaupt der Mahlgemeinschaft sprach, den Becher Wein in der Hand, den vorgeschriebenen Tagessegen. Der Segen galt aber nicht den Anwesenden; mit dankbarem Herzen gesegnet wurde der Gott Israels, der sie aus der Knechtschaft Ägyptens herausgeführt hatte.

Johannes 13, 5: "Dann gießt er Wasser in das Waschbecken und fing an, die Füße der Jünger zu waschen und mit dem leinenen Tuch abzutrocknen, mit dem er umgürtet war." Die Passah-Liturgie schrieb nach dem zweiten Becher Wein das Waschen der Hände vor. Der Herr Jesus weicht hier davon ab, indem er nicht nur seine Hände, sondern auch die Füße der Jünger wäscht.

Johannes 13, 26: "Jesus antwortete: Der ist es, dem ich den Bissen, wenn ich ihn eingetaucht habe, geben werde. Und als er den Bissen eingetaucht hatte, nimmt er ihn und gibt ihn Simons Sohn, dem Ischarioth." Nach dem ersten und dem zweiten Becher Wein wurden die bitteren Kräuter gegessen, eingetaucht in ein Fruchtmus. Die bitteren Kräuter bestanden aus Endivie, Chicoree und Löwenzahn, das Fruchtmus war dagegen süß. Danach wurde das ungesäuerte Brot gebrochen und verteilt, das ungeteilte, gebratene Lamm verzehrt und als Abschluss des Mahls der dritte Becher Wein, der Segensbecher, gereicht. Das Passahmahl war zu Ende.

Ethelbert Stauffer gibt in seinem Buch "Jesus, Gestalt und Geschichte", eine überzeugende Darstellung der Ereignisse:

"Am Donnerstag feiert Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl (Johannesevangelium). Schon die Abendstunde spricht dafür, dass es sich um ein Passahmahl handelt. Aber nicht nur Johannes, auch die Synoptiker erwähnen nirgends ausdrücklich ein Passahlamm, weder bei den Zurüstungen noch bei der Feier selbst, auch da nicht, wo sich ein Hinweis auf das Lamm des Passahtischs geradezu aufdrängt. Warum nicht? Nach Johannes, Paulus und der altrabbinischen Jesustradition ging das Tempelritual mit der Schlachtung der Passahlämmer erst am Freitag vor sich, zurzeit, als Jesus gekreuzigt wurde."

Die Schlachtung der Lämmer vollzog sich am 14. Nisan, und zwar zwischen der neunten und der elften Stunde.

"Danach erst feierte der Hochklerus und das amtliche Jerusalem sein Passahmahl (auch der Talmudreferendar Saul von Tarsus). Jesus hat sein Passahmahl demnach vierundzwanzig Stunden vor dem offiziellen Passahmahl der Tempelgemeinde gefeiert. Warum aber ohne das gebratene Lamm?"

Der chronologische Aspekt erscheint unwiderlegbar. Dem Passah hatte Gott die Bedeutung eines Familienmahls gegeben, es sollte die Feier der Hausgemeinschaft sein. Wenn die Hausgemeinschaft für ein Lamm nicht zahlreich genug war, sollte sie um die Familie des nächsten Nachbarn erweitert werden. Das Lamm war aber nie zu klein für ein Haus, es war immer ausreichend. Erst der König Josia von Juda löste diesen familiären Charakter des Passahs auf, indem er den gesamten Gottesdienst und alle Feiern auf Jerusalem konzentrierte und Jerusalem zum Wallfahrtsort machte. Das Passah konnte danach nur noch in Jerusalem gefeiert werden, und nur das im Tempel von den Priestern geschlachtete Lamm galt als Passahlamm. Das war auch sechshundert Jahre später noch so, als der Herr Jesus sich und seinen Jüngern das Passah bereiten ließ.

Johannes hat sein Evangelium um das Jahr 80 n. Chr. geschrieben, und zwar in Ephesus. Etwa fünfundvierzig Jahre nach dem Geschehen in Jerusalem lebte er schon seit Jahrzehnten im griechisch-römischen Kulturkreis, in dem die "Uhren" anders gingen als dort. Griechen und Römer rechneten die vierundzwanzig Stunden des Tages von Mitternacht bis Mitternacht; und dieser Chronologie hat Johannes sich angepasst. Wenn wir in ein Land reisen, in dem wir unsere Uhren umstellen müssen, um synchron zu sein, machen wir es genauso. Für Johannes war deshalb die sechste Stunde, Johannes 19, 14, zu der der Herr Jesus vor Pilatus stand, sechs Uhr morgens. Für die Synoptiker war nach jüdischer Zeitrechnung die sechste Stunde (Lukas 23, 44) jedoch zwölf Uhr mittags. Und das letzte Passah, das der Herr Jesus mit seinen Jüngern gefeiert hat, fand am Abend des Donnerstag statt, deshalb spricht Johannes von einem Abendessen. Für ihn beginnt der Rüsttag zum Passah um Mitternacht, für die Synoptiker jedoch, nach jüdischer Zeitrechnung, schon am Donnerstagabend um sechs Uhr (Sonnenuntergang). Deshalb sprechen sie, völlig zu Recht, von einem Passahmahl.

Für mich ist der theologische Aspekt nicht weniger überzeugend. Denn eins ist ganz gewiss: der Herr Jesus hat das letzte Passah, das er auf der Erde feiern konnte, vierundzwanzig Stunden früher gefeiert als der Hochklerus Jerusalems. Dem Volk, dessen Herz fett, dessen Ohren schwerhörig und dessen Augen verklebt waren, hat er ganz bewusst die Familiengemeinschaft des Passah verweigert. Und wie hätte er, der genau wusste, wer in dem Jahr, und für alle Zukunft, das wahre Passahlamm stellen würde, noch in einer Tradition leben sollen, die alt war, die sich überlebt hatte, die dem Verschwinden nahe war, Hebräer 8, 13. Er wusste, dass er vierundzwanzig Stunden später nicht mehr feiern konnte, und so feiert er das Passah in der Familiengemeinschaft mit seinen Jüngern; in der Gemeinschaft, die hier neutestamentlichen Charakter bekommt. Im Übrigen war das Passah ein von Gott verbindlich verordnetes Gedächtnismahl, es gehörte aber nicht zum Gesetz.

Weiter bei Ethelbert Stauffer:

"Jesus hatte für den Verzicht auf das Passahlamm einen zwingenden Grund, der bisher anscheinend völlig übersehen worden ist: Die jüdischen Ketzergesetze (Paragraph 123) verbieten dem Apostaten, vom Passahlamm zu essen. Niemand kann einen solchen Juden jedoch daran hindern, sich ein häusliches Festmahl herzurichten. Und das Ketzergesetz erlaubt ihm ausdrücklich, Mazzen und Bitterkräuter zu essen. Aber er kann bei diesem Privatmahl kein Passahlamm verzehren, denn er darf es nicht zur Schlachtung in den Tempel bringen. Wenn man das weiß, dann begreift man, warum Jesus zu seinen Jüngern kein Wort sagt vom Aussuchen des Passahlamms, vom Gang zum Tempel und dem dort allein zulässigen Schlachten des Lammes, kein Wort von all diesen hochrituellen Vorarbeiten, die in der jüdischen Passahpraxis und Passahliteratur eine gewaltige Rolle spielen. Jesus spricht lediglich von den häuslichen Mahlvorbereitungen, die von der Tempelschlachtung unabhängig waren, sobald man auf ein Passahlamm verzichtete. Nun erklärt sich aber auch, warum die Evangelien allesamt ausdrücklich von den Mazzen und Bitterkräutern sprechen und das Passahlamm "ausdrücklich verschweigen" (dum tacent clamant): Denn jene sind dem Ketzer erlaubt, dieses aber ist ihm verboten. Jesus aber ist nicht nur irgendein Apostat, er ist ein steckbrieflich verfolgter Abfallprediger. Darum musste er sich bei einer häuslichen Mahlfeier vor Spitzeln und Denunzianten in Acht nehmen. Wenn man das bedenkt, versteht man erst richtig, warum die Jünger in Markus 14, 14 so bittend, besorgt und behutsam fragen: "Der Meister spricht: Wo ist der Unterkunftsraum für mich, wo ich mit meinen Jüngern das Passahmahl essen kann?" Jesus brauchte einen abgelegenen Zufluchtsraum, in dem er ungestört und ungefährdet feiern konnte, und einen Hausherrn, der den Mut hatte, dem verketzerten Galiläer und seiner verfemten Jüngerschar für ein paar Stunden den erbetenen Unterschlupf zu gewähren.

Im Übrigen ist ein Passahmahl ohne Lamm nichts Unerhörtes. Schon im Jahr zuvor hat Jesus mit seinen Jüngern in Kapernaum das Passah ohne Lamm gefeiert. Alle Juden in Galiläa und der weiten Welt, die nicht nach Jerusalem pilgern konnten, mussten ihr Passah ohne Tempelritual und ohne Lamm feiern.

Der Paragraph 123 der jüdischen Ketzergesetze besagt: Am Passahabend darf der Apostat kein Passahlamm essen. Dagegen ist ihm das Essen der Mazzen und Bitterkräuter erlaubt."

Für mich ist das eine der bewegendsten, außerbiblischen Schilderungen der letzten Erdenstunden des Herrn, die ich kenne.

"Als nun jener den Bissen genommen hatte, ging er sogleich hinaus. Es war aber Nacht." (Johannes 13, 30) Es war ein ungewöhnlicher Zeitpunkt, die Mahlgemeinschaft zu verlassen, denn mit dem Eintauchen der Bissen hatte das eigentliche Mahl gerade erst begonnen. Nachdem Judas gegangen war, nimmt das Mahl mit dem Hochheben der Platte mit dem ungesäuerten Brot seinen Fortgang. Dabei wurde üblicherweise aus 5. Mose 16, 3 zitiert. Die Feier begann in der ersten Stunde des Rüsttages und musste bis zur sechsten Stunde (Mitternacht) beendet sein (jüdische Zeitrechnung).

"Und er nahm Brot, dankte, brach und gab es ihnen und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Das tut zu meinem Gedächtnis!" (Lukas 22, 19) Die eigentliche Mahlzeit beginnt. Der Herr Jesus ergreift das ungesäuerte Brot, spricht das Dankgebet und teilt das Brot stückweise unter die Jünger. Dazu sagt er die Worte aus Lukas 22, 19, die nicht zur vorgeschriebenen Passahliturgie gehören. Danach wurde das zubereitete Essen, zu dem ein Stück gebratenes Fleisch anstelle des Passahlamms gehören konnte, verzehrt.

"Ebenso auch den Kelch nach dem Mahl und sagte: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird." (Lukas 22, 20) Nach der Mahlzeit wurde der dritte Becher Wein getrunken, der Segensbecher. Üblicherweise wurde dabei das so genannte große Tischgebet gesprochen: Der Barmherzige, er würdige uns der Tage des Messias und des Lebens der künftigen Welt, er, der da groß macht das Heil seines Königs und Gnade beweist an seinem Gesalbten, an David und seinem Samen in Ewigkeit. Der da Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, er stifte Frieden über uns und ganz Israel. So sprechet Amen (nach jüdischer Überlieferung).

Nach dem gemeinsamen Amen setzt der Herr Jesus die Worte von Lukas 22, 20 hinzu, die ebenfalls nicht zur vorgeschriebenen Passahliturgie gehören. Danach wird das große "Hallel" aus Psalm 113 und Psalm 118 gesungen. Das Passahmahl ist zu Ende.

Der grundsätzliche Ablauf des Passah wird demnach wie folgt erkennbar (zu beachten ist: das Wort Passah bezeichnet keineswegs nur das Fest, der gleiche Ausdruck wird auch für das Lamm gebraucht. Ein Umstand, der in Auslegungen nicht immer beachtet wird):

  1. Der erste und der zweite Becher Wein
  2. das Eintauchen und Verzehren der Bitterkräuter
  3. das Brechen und Austeilen des ungesäuerten Brotes
  4. das eigentliche Passahmahl
  5. der dritte Becher Wein.

Diese biblischen Zusammenäge helfen uns, unseren Herrn besser zu verstehen. Und vielleicht führt es dazu, dass wir die Mahlfeier heute besser verstehen und sie gerne besuchen.

Literaturnachweis

Ethelbert Stauffer: Jesus, Gestalt und Geschichte; Dalp-Taschenbuch, Francke Verlag Bern und München 1957;
Ethelbert Stauffer: Jerusalem und Rom; Dalp-Taschenbuch, Francke Verlag Bern und München, 1957;

© 2003 by Günther Karrenberg


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Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift der Brüdergemeinden "PERSPEKTIVE" Nr. 4/2003 entnommen.
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