Gott kommt uns nah

Vom Wunder der Menschwerdung von Jesus


Roger Hofeditz [ 1 ]

"Ich steh an deiner Krippen hier" - so dichtet Paul Gerhard und immer wieder ist es ergreifend dieses Lied zu singen oder zu hören. Wenn ich es singe, ist Weihnachten. Alle Jahre wieder. Alle Jahre wieder die gleichen Fragen und Anmerkungen zu Weihnachten: Geschenke, Lieder, beschenkt werden, Feierlichkeiten - muß das sein? Ja, es muß sein. Es muß deswegen sein, damit ich an das Unfaßbare erinnert werde. Im Abendmahl erinnere ich mich an den sterbenden und auferstandenen Herrn. Es ist gut, sich einmal im Jahr zu erinnern, was in Bethlehem geschah.

"Ich steh an deiner Krippen hier" - was sehe ich? Ich sehe:


Gott wird Mensch

Wissen tue ich das, aber habe ich es auch verstanden? "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen." (Joh 12,45). In Jesus wird ein Mensch nicht einfach eine Behausung, in der Gott wohnt. Er wird nicht ein Teil eines Menschen, der auch wieder entfernt werden kann und dieser Mensch existiert trotzdem weiter. Nein, Weihnachten soll ich begreifen, Gott wird Mensch.

Der Himmlische wechselt in den Raum der Menschen. Der Entrückte tritt in die Leiblichkeit. Der Unsichtbare wird in Menschengestalt sichtbar. Der Unabhängige macht sich abhängig von Essen, Trinken, Schlafen. Der Ewige tritt in den Augenblick und beginnt die Stunden zu zählen, bis seine Stunde gekommen ist.

Dieser Wechsel ist vollkommen. Nicht einmal Gott und dann wieder Mensch. Nicht wie es der Moment oder die Situation erfordert ereignet sich Gott im Menschen. Nicht symbolisch. Nein! Wer Jesus hört, hört Gott. Wer Jesus sieht, sieht Gott. Jesus hat Gott nicht erlebt. Er ist Gott. In der Menschwerdung tritt der unsichtbare Gott hervor, wird offenbar. Damit wird für alle sichtbar, fühlbar, faßbar, was bisher nicht zugänglich war. Gott redet jetzt selber zu uns. Nicht andere reden von ihm oder für ihn. Gott selber hat plötzlich eine Lebensgeschichte. Nicht andere erzählen eine Geschichte von Gott. Gott lebt sie selbst.

Jesus hat ein ganzes Ja zu seinem Menschsein gehabt. Er lebte ganz in den damaligen Verhältnissen. Nie tat er ein Wunder, um die Schranken seines Daseins als Mensch zu lockern. Etwa um seine Feinde zu überwinden, Nahrung zu beschaffen oder die Blindheit seiner Jünger zu überwinden. Gott ist in Jesus Mensch geworden. Das möchte ich Weihnachten wieder neu verstehen. Und das ist nicht selbstverständlich (vgl Mk 4,12).

"Ich steh an deiner Krippen hier" - was sehe ich? Ich sehe:


Gott wird versuchlich

Menschwerdung bedeutet, daß Jesus in der gleichen Art und Weise wie ich versucht worden ist. Nur das Ergebnis war ein anderes. (Hebr 4,15) Ich nehme das als geschehen hin. Aber was bedeutet das? Meine Erlösung ist nicht geschehen als Ausbruch göttlicher Gewalt, der alles weichen muß. Eigentlich müßte Jesus den Feind ohne weiteres besiegen. Die Macht des Geistes Jesu ist stärker als der Geist des Trugs und der Verlogenheit.

Weihnachten erinnere ich mich, daß der Menschensohn auf dem Kampfplatz der Welt erschienen ist. Als Kind in der Krippe. "Er entäußerte sich selber" (Phil 2,7), d. h. doch, er ließ seine Macht zurück. Ganz? Zum Teil? Jedenfalls so, daß der Versucher an ihn herantreten kann. Die Versuchung ist nicht rein theoretisch. Von vorne herein ohne Erfolg. Das Ende war durchaus offen.

Menschwerdung bedeutet für Jesus, den Kampf gegen den Versucher als schwacher Mensch zu führen, verletzlich, besiegbar. Es ist durchaus dahingestellt, ob er siegen wird in dem Sinne, daß die Mauer der Finsternis weichen und das Wahrheit und Liebe die Herzen der geknechteten Menschen erfüllen wird. Der Kampf konnte auch verloren gehen und in gewissem Sinne ist er das ja auch. Auch über der Krippe steht schon das Kreuz. Besiegt. Tod. Erledigt. Er starb, aber ohne Sünde.

Das ist die andere Seite der Menschwerdung. Hier entsteht ein Wesen, in dem sich Gottes Ebenbürtigkeit der Sünde gegenüber ausdrückt. Nur Gott ist der Sünde gewachsen. Nur er kann sie ermessen, beurteilen, durchblicken. Der Mensch zerbricht an ihr. Aber als Mensch vollzieht Gott die Abrechnung mit der Sünde. Niemand ist so gestorben, wie Jesus. Nicht wegen dem Kreuzestod, sondern weil er das Leben war. Niemand ist so gestraft worden für die Sünde wie Jesus. Nicht, weil er gesündigt hat, sondern weil er der Reine war.

Niemand hat Absturz ins Nichts aus der Gegenwart des Vater so erfahren wie er: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27,49)

Weihnachten wird Gott Mensch, aber das war noch nicht der Tiefpunkt seiner Sendung. Ich will wieder neu verstehen, was Gott alles aufs Spiel gesetzt hat, um mich zu retten.

"Ich steh an deiner Krippen hier" - was sehe ich? Ich sehe:


Gott wird zum Anstoß

Menschwerdung bedeutet, daß Gott zur Welt kommt - wie ein Mensch. Nirgendwo wird das greifbarer wie an den Windeln Jesu. Auch das ist gleich anstößig, für Josef, für die Familie, für uns bis heute. Kann Gott so auf die Welt kommen? Kann Gott so sein?

Kann Gott als der Sohn eines Zimmermanns auf die Welt kommen? In einer ganz normalen Familie leben, lernen, aufwachsen? Nazareth, Klein-Kleckersdorf in Galiläa ohne Verheißung im AT wird zum Anstoß. Gerade die Menschlichkeit Gottes in Jesus richtet Mauern auf. Gerade die Nähe Gottes, das Offenbare trennt. Der Zweifel, ob Gott so ist, bleibt bis zu letzt, auch im Jüngerkreis (Mt 28,17). Der Anstoß setzt sich fort in den Boten des Glaubens. In den ersten Apostel und allen, die ihnen bis heute gefolgt sind. Die Jünger verkündigen in der Rückschau, aber erleuchtet durch den Heiligen Geist. Aber die Menschlichkeit der Boten legt sich darüber und wird zum Anstoß. Was ist nicht alles geschrieben und gedacht worden über den Glauben an Jesus. Wofür hat er nicht alles herhalten müssen. Wozu ist er nicht alles Mißbraucht worden.

Es ist schwer, hinter der menschlichen Hülle Gott zu verstehen. Und doch trägt jeder einen Menschen in seinem Herzen, der ihm zum Wegweiser zu Jesus geworden ist.

War es früher leichter zu glauben, als Jesus noch lebte, als Pfingsten war oder als der Apostel Paulus noch durch die Lande zog? Nein, denn zu allen Zeiten mußten die Hörer des Evangeliums Gott in der menschlichen Hülle entdecken. Gottes Wort erkennen, das zu ihnen aus einem menschlichen Mund sprach. Gottes Antlitz in einem Menschenantlitz erkennen. Nein, heute ist der Glaube an Jesus weder schwerer noch leichter als der Glaube an den Sohn des Zimmermanns, an das Kind in der Krippe. Weihnachten will ich wieder neu verstehen, wie klein Gott sich gemacht hat, damit er mir in die Augen sehen kann.

"Ich steh an deiner Krippen hier" - was sehe ich? Ich sehe:


Gottes setzt sich meinem Urteil aus

Mit dem Kind in der Krippe ist Gott plötzlich verfügbar. Er ist nicht mehr der, der weit weg ist. Der, der geheimnisvoll ist und zu dem kein Mensch Zugang hat. Keine Aura des unnahbaren, gewaltigen, numinosen umgibt ihn. Plötzlich steht Gott zur Verfügung.

Er kann gewogen werden, gezählt, beobachtet, kritisiert. Sein Reden und Handeln wird von den Hörern beurteilt. Die einen sind begeistert, die anderen entsetzt. In Jesus setzt Gott sich dem Urteil der Menschen aus. Und zu keiner Zeit ist er nur auf Zustimmung gestoßen.

Menschen entscheiden was Gott getan haben kann und was nicht. Menschen bauen um das, was Jesus gesagt und getan hat, ihre Lehre auf. Sie wird dann für richtig erklärt. Menschen benutzen Leben und Lehre Jesu für ihre eigenen Zwecke. Und für das, was Menschen taten muß Gott sich rechtfertigen! Menschwerdung Jesu bedeutet, Gott gibt sich in meine Hand. Er setzt sich meinen Händen aus, meinem Urteil, meinen Überlegungen. Mir wird unheimlich bei dem Gedanken.

Das Kind in der Krippe, ich halte es in den Händen. Geht es mir wie Thomas, der nicht Glauben wollte, bis er seine Hände in die Nägelmale und die Seite gelegt hat? Und dem Jesus beides anbot. "Mein Herr und mein Gott.", daß war das Urteil des Thomas. Zu Christus, dem Herrn, werden auch die Hirten auf dem Felde in der Weihnachtsgeschichte geschickt. (Lk 2,11)

Das Kind in der Krippe ist mein Herr und mein Gott.

"Ich steh an deiner Krippen hier" - was sehe ich? Ich sehe:


Gottes Demut

Das Kind in der Krippe zeigt mir Gottes Demut. Sich in das Kleine, Nichtige zu werfen. In ihm ist etwas, daß ihn bereit macht, ein unbekannter Mensch im Dorf Nazareth zu werden. Seine Freude war bei den Menschenkindern. (Spr 8,31) Sein Jubel war bei den Schwachen, Kleinen. Jesus freute sich darüber, daß der Vater sich in den Unmündigen zeigen will. (Mt 11,25)

Das Kind in der Krippe erinnert mich daran, daß Gott selbst durch seinen Heiligen Geist in meinem Leib eingezogen ist. (1Kor 3,16) Gibt es größere Demut Gottes?


Ich steh an deiner Krippen hier,
o Jesus du mein Leben;
ich komme, bring und schenke Dir,
was Du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn;
Herz, Seel und Mut, nimm alles hin
und laß Dir`s wohlgefallen!

Ich sehe dich mit Freuden an
und kann nicht satt mich sehen;
und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O daß mein Sinn ein Abgrund wär
und meine Seel ein weites Meer,
daß ich Dich möchte fassen!

Eins aber, weiß ich, wirst Du mir,
mein Heiland, nicht versagen,
daß ich dich möge für und für
in meinem Herzen tragen.
So laß mich Deine Wohnung sein,
komm, komm und kehre bei mir ein
mit allen Deinen Freuden!

von Paul Gerhardt



[ 1 ] Der Autor, Roger Hofeditz , ist Pastor in der Brüdergemeinde in Nürnberg.

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Copyright (C) 2004 by Roger Hofeditz
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Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift PERSPEKTIVE Nr. 12/2004 Email: perspektive@christ-online.de
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