"Kirche und Judentum" oder "Israel und die Gemeinde"

Eine kurz gefasste Einleitung zu den nachfolgenden
»Thesen zum Verhältnis von Kirche und Judentum«

von Alfred Burchartz

Einleitung

Christen und Juden – ein Thema, das in allen deutschen Landeskirchen viel diskutiert wurde und zum Teil auch noch wird, aber auch durch Synodalbeschlüsse in etlichen Landeskirchen abgeschlossen erscheint.

Hierzu hat in Bayern der »Theologische Ausschuss der Gesellschaft für Innere und Äußere Mission im Sinne der lutherischen Kirche« in einem Sonderdruck mit 29 »Thesen zum Verhältnis von Kirche und Judentum« Stellung genommen.

Das Auffallende bei diesen Thesen ist, dass sie inhaltlich nicht vom Zeitgeist, sondern vom Neuen Testament her, also von Jesus Christus bestimmt sind.


Zum Thema Mission:

»Vom Neuen Testament her steht es Christen nicht frei, das Zeugnis zu unterlassen. Nicht nur der Taufbefehl, sondern das einhellige Zeugnis des gesamten Neuen Testaments lässt keinen Zweifel daran, dass wir aller Welt das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem einen Mittler zwischen Gott und den Menschen schulden (l. Tim 2,5)«, also auch den Juden. – Aus These 3.


Zum Holocaust und der deutschen Schuld:

»Daraus jedoch zu folgern, dass es kein Christuszeugnis mehr geben dürfte, so als ob es durch den Holocaust ein für allemal unmöglich geworden wäre, würde diesem geschichtlichen Ereignis einen fragwürdigen Offenbarungscharakter verleihen und wäre Ausdruck des Unglaubens und Ungehorsams.« – Aus These 4


Zum Thema Toleranz und Antijudaismus:

»Den (jüdischen) Menschen und ihrer Frömmigkeit schulden wir selbstverständlich Respekt, der aus der Nächstenliebe kommt. Das ändert jedoch nichts daran, dass wir u. U. das, was sie lehren und glauben, kritisch sehen oder ablehnen. Darum gilt es zu unterscheiden zwischen Toleranz gegenüber Menschen und der gegenüber Ideen und Lehren ...«

»Es ist üblich geworden, jede kritische Auseinandersetzung mit dem Judentum (seiner Lehre und Praxis) als Antijudaismus zu bezeichnen und so als gefährliche Vorbereitung für Judenfeindschaft zu ächten. Das läuft auf ein theologisches Denk- und Gesprächsverbot hinaus ...« – Aus Thesen 5, 6 und 7


Die Tora und ihre Erfüllung

Schwerpunktmäßig wird durch mehrere Thesen das »Gesetz«, seine Bindungen und Bedeutung für Juden und Christen behandelt. Z.B. das Gebot der Beschneidung, der Schabbat, die Reinheitsgebote, das Gesetz als Weg zum Heil, die Stellung Jesu zum Gesetz und Jesu Tod als stellvertretendes Sühneopfer für Juden und Nichtjuden.

Für Juden ist das »Gesetz« (sie verwenden hier für das Wort Tora = Weisung) die unlösbare Bindung an Gottes Wirklichkeit. Nach 3. Mose 18,5 ist sie als »Weisung zum Leben« zentrales Glaubensgut.

Doch nicht nur die Tora, sondern mit der Tora auch die rabbinische Lehrtradition, sind glaubens-bestimmende Elemente, wie sie von der jüdischen Orthodoxie auch gegenwärtig hartnäckig vertreten und vom Volk gefordert werden. Davon hat sich das Reformjudentum zum Teil gelöst. Die Mehrheit des jüdischen Volkes aber ist in die Säkularisation ausgewichen.

Jesus hat dagegen die menschliche Unerfüllbarkeit der Tora gegen die Forderungen der Pharisäer aufgezeigt (Mt 5,21ff), ohne ihre bleibende Gültigkeit in Frage zu stellen (Mt 5,17f). Nur zeigt er, wie auch der Apostel Paulus, den einzig möglichen Weg zum Heil im durch ihn präsenten stellvertretenden Schuldopfer auf, das schon heute Sünden tilgt (Joh 1,29). Von nun an müssen Juden sich entscheiden, den Weg der Tora zu gehen mit der Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit im Endgericht oder das Heil in Jesus Christus für ihr Leben und Sterben heute anzunehmen. Hier bestehen die grundsätzlichen Differenzen zwischen Juden und Christen.

»Der Mensch, der die Worte der Tora tut, wird durch sie leben« (3. Mose 18,5), das wird durch Jesu gehorsames Leben und Sterben bestätigt (Phil 2,6ff). Jüdische Christen sehen in der Auferstehung Jesu die demonstrative Antwort Gottes auf die gehorsame Toraerfüllung Jesu: »wird durch sie leben!«


Juden brauchen Jesus nicht?

Auch wenn auf Joh 14,6 nicht ausdrücklich Bezug genommen wird, lassen die Thesen die Behauptung nicht zu, dass Israel zu seinem Heil Jesus nicht braucht, weil es bereits im Vaterhaus sei (Franz Rosenzweig).

»Eine sachgemäße Bestimmung des Verhältnisses von Judentum und Christentum ist nur möglich von Jesus Christus her. Er ist Heil und Krisis für alle Menschen, also auch für die Juden. ‘Der von diesem Evangelium ausgerufene und die Verkündigung der Apostel autorisierende Christus Jesus ist und bleibt der eine und einzige Erretter, Herr und Richter aller Heiden und Juden. Ohne ihn zu bekennen, gibt es auch für Israel kein Heil vor Gott.’« (Peter Stuhlmacher)


Hoffnung für Israel

Was uns Christen mit den Juden verbindet ist nicht nur die Geschichte Gottes mit Israel, deren verheißenes Ziel Schalom heißt, sondern auch und viel mehr noch die Hoffnung, dass im endzeitlichen Geschehen Gottes Handeln Israel »sehend« werden lässt für sein Heil in seinem Messias Jesus (Röm 1,25f).

Mit dieser Hoffnung kann es keine Verwerfung Israels durch Christen und ihre Kirchen geben. Jüdische Christen, auch wenn ihre Zahl gering ist, sind dafür ein vorweggenommenes Zeichen.


Die Allegorie vom Ölbaum (Röm 11,17–24)

Das Papier endet mit einer die gegenwärtig landläufigen Auslegung der Allegorie vom Ölbaum deutlichen Korrektur. »... Das wahre Gottesvolk ist vom konkreten Judentum (und auch von der konkreten Kirche) klar zu unterscheiden (vgl. dazu auch die prophetische und deuteronomistische Kritik an Israel im Namen Gottes!). Die Grundlage, die uns trägt, das Urbild, nach dem die Kirche Jesu Christi gestaltet ist, ist das Israel der Verheißung Gottes. In dieses werden die Heiden eingepfropft (Heidenchristen), zu diesem gehören auch die nicht ausgebrochenen Zweige (gläubig gewordene Juden, Judenchristen). Beide Gruppen zusammen bilden jetzt als Zweige dieses Ölbaums die Gemeinde Christi aus Juden und Heiden.«



Thesen zum Verhältnis von Kirche und Judentum

Vom
»Theologischen Ausschuss der Gesellschaft für Innere und Äußere Mission im Sinne der lutherischen Kirche«
Neuendettelsau

»Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.« (Hebräer 13,8)

1. Begegnung:

Die Begegnung zwischen Christen und Juden ist aus vielen Gründen unerlässlich. Gegenseitiges Kennenlernen ist zu begrüßen, zwischen Menschen und auch zwischen Religionen. Dabei erkennen die Gesprächspartner beider Seiten – je näher sie sich kommen – nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Unterschiede, ja oft Gegensätze schärfer und genauer.


2. Dialog:

Bei jedem ernsthaften Gespräch über Glaubensfragen öffnet man sich dem anderen und setzt sich seiner Wahrheitserkenntnis aus. Beide Dialogpartner werden dadurch ver-ändert, oftmals bereichert, manchmal verunsichert. Beim Dialog zwischen Juden und Christen muss die Auslegung von Gottes Offenbarung in der Heiligen Schrift im Mittelpunkt stehen.


3. »Mission«:

Religiöser Dialog schließt das Bekenntnis des eigenen Glaubens ein. Vom Neuen Testament her steht es Christen nicht frei, das Zeugnis zu unterlassen. Nicht nur der Taufbefehl, sondern das einhellige Zeugnis des gesamten Neuen Testaments lässt keinen Zweifel daran, dass wir aller Welt das Bekenntnis zu Christus, dem einen Mittler zwischen Gott und den Menschen schulden (1.Tim 2,5).


4. Last der deutschen Vergangenheit:

Deutsche sind nach dem Holocaust wenig geeignet, Juden ein Zeugnis von Christus zu geben. Auch wenn wir von persönlicher Schuld frei wären, belastet diese Vergangenheit das Verhältnis zwischen uns und den Juden.

Daraus jedoch zu folgern, dass es kein Christuszeugnis mehr geben dürfe, so als ob es durch den Holocaust ein für allemal unmöglich geworden wäre, würde diesem geschichtlichen Ereignis einen fragwürdigen Offenbarungscharakter verleihen und wäre Ausdruck des Unglaubens und des Ungehorsams gegenüber Christus.


5. Unterscheidung zwischen Person und Sache:

Wir müssen zwischen den Lehren der beiden Religionen und den beteiligten Menschen unterscheiden: Den Menschen und ihrer Frömmigkeit schulden wir selbstverständlich Respekt, der aus der Nächstenliebe kommt. Das ändert jedoch nichts daran, dass wir unter Umständen das, was sie lehren und glauben, kritisch sehen oder ablehnen.


6. Toleranz:

Darum gilt es zu unterscheiden zwischen Toleranz gegenüber Menschen und der gegenüber Ideen und Lehren.

Toleranz wird heute weithin als Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheitsfrage verstanden; besonders in religiöser Hinsicht wird behauptet, alle Antworten seien grundsätzlich gleichberechtigt und gleich wahr: »Es gibt viele Wahrheiten.« Solcher Relativismus in Bezug auf Glaubenswahrheit zerstört den Glauben selbst und jede Religion. Er kann weder von gläubigen Juden noch Christen bejaht werden. Dies ist eine falsche, alle Glaubenserkenntnis einebnende Toleranz.

Echte Toleranz hingegen geht von der eigenen Überzeugung aus und erträgt (tolerare = ertragen, erleiden) den Widerspruch des anderen Glaubens, ebnet die Unterschiede nicht ein, obwohl er sie nicht als nebensächlich und gleichgültig ansieht. Echte Toleranz bedarf bei den nötigen Auseinandersetzungen der Liebe und Geduld.


7. Antijudaismus:

Es ist üblich geworden, jede kritische Auseinandersetzung mit dem Judentum (seiner Lehre und Praxis) als Antijudaismus zu bezeichnen und so als gefährliche Vorbereitung für Judenfeindschaft zu ächten. Das läuft auf ein theologisches Denk- und Gesprächsverbot hinaus. Es gilt auch hier zu unterscheiden zwischen einer sachli-chen Auseinandersetzung (die nötig ist und nichts mit Antijudaismus zu tun hat) einerseits und einem irrationalen Urteil über jüdische Menschen andererseits. Dieses wird mit Recht als Antijudaismus gebrandmarkt (vgl. Nr. 5).


8. Israel:

Christen unterscheiden zwischen dem Israel vor dem Kommen Jesu, das auf seinen Erlöser und seine Erfüllung durch den Messias wartet und einem Judentum nach Christus, das diesen in seiner Mehrheit abgelehnt hat.

Das heutige Judentum ist nicht mehr einfach identisch mit dem Volk Israel des Alten Testamentes. Das Kommen Jesu Christi hat die Situation der Juden wesentlich und grundlegend verändert.


9. Jesus Christus und das Alte Testament:

Im Mittelpunkt des christlichen Glaubens steht Jesus Christus: »Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat. Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe ...« (Hebr 1,1–3; vgl. auch Hebr 2,17)

Er hat den Alten Bund erfüllt; durch ihn und über ihn gilt für uns das Alte Testament. Wir lesen und verstehen es in der Auslegung Jesu Christi: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist ... Ich aber sage euch!« (Mt 5,21–48) Wir haben also zum Alten Testament – anders als das Judentum – ein durch Jesus Christus vermitteltes Verhältnis. »Das Neue Testament ist im Alten versteckt, das Alte im Neuen aufgedeckt.« (nach Augustinus, Sermones 160, 6)


10. Gott:

Bei der Frage nach Gott lässt sich Jesus Christus sowenig wie der Heilige Geist ausklammern.

»Gott wird erkannt im Angesicht Jesu Christi.« (2.Kor 4,6) Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dessen Handeln im Alten Testament bezeugt wird, ist in und durch Christus »unser« Gott: der Vater Jesu Christi.

Jesus Christus prägt für uns Gottesverständnis und -verhältnis.

Damit ist zugleich das Nötige über die Frage des Gottesnamens und des Gottesbildes gesagt. »Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott ...« (Martin Luther, EG 362, 2). Das trinitarische Wesen Gottes wird im Neuen Testament in dreigliedrigen Formeln mehrfach bezeugt (vgl. 2.Kor 5, 19; 13, 13; Eph 4,4–6).


11. Der Weg zum Heil: Christus oder das Gesetz?

Die von Gott durch Mose dem Volk Israel gegebene Tora und ihre Erfüllung ist die Mitte des Judentums und stellt dessen eigentlichen Heilsweg dar: »Tue das, so wirst du leben!« (3. Mose 18,5; Röm 10,5) Der Gesetzesgehorsam soll dem Juden sein Rechtsein (Schalom) im Urteil Gottes verleihen (Gerechtigkeit aus dem Gesetz). Demgegenüber verkündet Paulus: »Christus ist das Ende des Gesetzes« (Röm 10,4), nämlich des Gesetzes als Heilsweg. Christus tritt als Mittler zu Gott und als Erlöser an die Stelle des Gesetzes (Glaubensgerechtigkeit). »Wer an den glaubt, der ist gerecht.« (Röm 10,4; vgl. ferner Röm 4,4–5; Gal 3, 12.13)


12. Beschneidung:

Sie bedeutet für den männlichen Juden die Aufnahme ins Gottesvolk, in den »Bund der Beschneidung« (1. Mose 17,11), und damit in die Gemeinschaft mit Gott. Sie wird im Gesetz wiederholt geboten.

Für alle Christen ist die Zugehörigkeit zum Gottesvolk an den Glauben an Jesus Christus und die Taufe gebunden: »In Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der in der Liebe tätig ist.« (Gal 5,6) »Wer da glaubt und getauft wird, der wird gerettet werden.« (Mk 16,16)


13. Der heilige Tag:

Christen feiern als heiligen Tag nicht den Sabbat, sondern den Sonntag. Unser Feiertag hat sich nicht nur zeitlich verschoben vom siebten auf den ersten Tag der Woche als Tag der Auferstehung Jesu Christi, auch das Verständnis des Feiertags hat sich gewandelt: Jesus hat in Wort und Tat den ursprünglichen Sinn dieses Tages als Wohltat Gottes für den Menschen wieder freigelegt und so den Sabbat auf den Menschen bezogen: »Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.« (Mk 2,27) Hilfeleistung am Sabbat ist darum nicht nur erlaubt, sondern geboten (Mk 3,1–6). Zudem bezeichnet sich Jesus selbst als »Herr des Sabbats« (Mk 2,28; vgl. ferner Kol 2,16.17).

Über die Bedeutung des heiligen Tages als gottgeschenkten Ruhetag hinaus findet der Sonntag in der Anbetung des auferstandenen Herrn und der Mahlgemeinschaft mit ihm den tiefsten Sinn und eigentlichen Inhalt (vgl. Kol 3,16. 17; EG 162).


14. Reinheitsgebote:

Wie die kultischen Gebote, so sind auch die Reinheitsgebote für uns grundsätzlich außer Kraft gesetzt. Die anfängliche Beibehaltung der jüdischen Speisegebote unter den Judenchristen wurde durch die Predigt der Apostel theologisch überwunden. Jesus selbst hat durch die Verinnerlichung und Vertiefung des Verständnisses von Reinheit hierzu den Weg gewiesen (Mt 15,17–20, vgl. auch die Ansätze in dieser Richtung im Judentum, z.B. Psalm 51; Kol 2,20). Deshalb gehören die Reinheitsvorschriften wie die damit zusammenhängenden Speisegebote für uns zu den Nebensächlichkeiten, an die wir religiös nicht gebunden sind (vgl. 1. Tim 4,4–5).


15. Jesus – ein jüdischer Rabbi?

Jesus hat zwar das Gesetz ausgelegt wie ein Rabbi und wurde vom Volk deshalb auch so genannt, aber er tat es anders als die Schriftgelehrten, nämlich »in Vollmacht« (Mk 1,27 u.ö.). Auch sein »Erfüllen des Gesetzes« (Mt 5, 17ff) geschah nicht buchstäblich, sondern in der Freiheit und Überlegenheit dessen, der aus der Verbindung mit seinem himmlischen Vater heraus es sogar wagen konnte, Mose zu kritisieren (vgl. seinen Einspruch gegen den Scheidebrief Mt 19,7–9). Aus der gleichen Vollmacht heraus sprach er sein für einen Rabbi unerhörtes: »Ich aber sage euch ...« (Mt 5,22 u.ö.).


16. Jesu Verständnis und Wertung des Gesetzes insgesamt:

Jesus radikalisiert die Tora, indem er erst die ganze Tiefe des Gotteswillens in den vielen Vorschriften des Gesetzes aufdeckt und zur Geltung bringt. Er fasst den Willen Gottes zusammen in dem Doppelgebot der Liebe: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Mt 22,34–40). Wenn auch die beiden Teile dieses Doppelgebots aus dem Alten Testament stammen, so ist ihre Zusammenfassung als Summe des Willens Gottes und die daraus sich ergebende Vertiefung der Einzelgebote dem Judentum gleichwohl unbekannt und die Freiheit Jesu ihnen gegenüber unerhört. Wiederholt findet sich darum als Reaktion auf seine Auslegung des Gesetzes: Verwunderung, Staunen und sogar Entsetzen und Ablehnung. Er war also kein Lehrer der Tora wie andere.


17. Jesus – der Jude:

Nach seiner menschlichen Herkunft ist Jesus Jude; als »wahrhaftiger Gott« ist er »vom Vater in Ewigkeit geboren«. Das sprengt die Grenzen seiner irdischen Abstammung. Seine Vollmacht gegenüber den religiösen Traditionen seines Volkes ließ ihn – mehr noch als die Propheten – zu einem Reformator des Judentums werden, der es aus der Engführung seiner Zeit zurückrief zum Ursprung: »Mose hat euch erlaubt, euch zu scheiden von euren Frauen, eures Herzens Härte wegen; von Anfang an aber ist’s nicht so gewesen.« (Mt 19,8)

Die Heimholung Jesu ins Judentum als den »Ur- und Nur-Juden« (Schalom ben Chorin u. a.) geht an den geschichtlichen Tatsachen vorbei.


18. Jesus und jüdische Gruppen:

Jesus lässt sich in keine der damaligen jüdischen Gruppen (Sadduzäer, Pharisäer, Zeloten, Essener usw.) integrieren. Besonders sind hier die Pharisäer zu berücksichtigen, weil sie im Neuen Testament eine große Rolle spielen. Auch wenn man das verbreitete Vorurteil gegen sie korrigiert und überwindet, wird man trotzdem sagen müssen: Zur Gruppe (Partei) der Pharisäer gehörte Jesus nicht. Es gibt dafür im Neuen Testament kein positives Zeugnis. Jesu Verhältnis zu den Pharisäern macht es zudem höchst unwahrscheinlich, dass er zu ihnen gehörte. Einerseits stand er ihnen als gesetzestreuen »Gesunden«, die Gott gehorsam dienen wollten, nahe. Andererseits hat er sich von ihnen distanziert und sie streng kritisiert wegen ihres stolzen Selbstbewusstseins und ihrer harten Verurteilung der Sünder (Lk 15,2; 18, 9–14).


19. Jesus – der Messias:

Jesus handelte in göttlicher Vollmacht (Sündenvergebung!), auch dort, wo er keinen jüdischen Hoheitstitel (zum Beispiel Messias) für sich in Anspruch nahm.

Als Jesus seinen Jüngern die Frage stellte, wer er sei, in wessen Vollmacht er handele, erkannten sie ihn durch die Offenbarung des Heiligen Geistes als den gekommenen Messias Israels an. »Jesus ist der Messias (= Christus)« lautete ihr Glaubensbekenntnis (Mk 8,29). Mit der Anwendung des Messiastitels auf Jesus wurde die Vorstellung vom Messias grundlegend verändert und weit über das politische Verständnis eines jüdischen Königs hinaus ausgeweitet. Er war weit mehr und anderes als der von Israel erwartete Messiaskönig: das Heil Gottes für alle Menschen.


20. Die Kreuzigung Jesu:

Der Kreuzestod Jesu wirft zwangsläufig die Frage auf: Wer war schuld? Lange Zeit wurde sie in der christlichen Kirche mit dem kollektiven Vorwurf des Gottesmordes durch die Juden beantwortet. Diese Antwort ist eindeutig falsch. Es dient der Klärung, bei dieser Frage nach der Ursache des Todes Jesu zwei Betrachtungsweisen zu unterscheiden: die geistliche und die historische.

Die Antwort des Glaubens lautet: Jesus ging im Gehorsam gegen Gott und aus Liebe zu uns Menschen bewusst in den Tod, und Gott nahm sein Opfer an; so wurde aus dem schändlichen und grausamen Sterben das Heil der Menschheit gewirkt (Röm 8,31ff u.a.m.). »Musste nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen?« (Lk 24,26) »Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt« (Joh 1, 29). Deswegen bekennt der Glaube, dass im tiefsten Sinn alle Menschen an Jesu Tod Schuld tragen: »Ich, ich und meine Sünden ...« »Nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast ...« (Paul Gerhardt, EG 85,4).

Etwas anderes ist die historische Fragestellung nach der Schuld von einzelnen Menschen am Tode Jesu. Sie darf weder »den Juden« noch »den Römern« allein zugeschrieben werden; sie müsste nach den neutestamentlichen Quellen so genau wie möglich den dort genannten Einzelpersonen und Verantwortungsträgern seiner Zeit angelastet werden.


21. Politischer Messianismus:

Die im jüdischen Königtum angelegte Verschmelzung von religiöser und politischer Autorität, die auch in der Geschichte anderer Völker auftaucht und oft zu Fanatismus und Totalitarismus geführt hat, wurde von Jesus durchkreuzt. Sein wehrloser Weg ans Kreuz als »König der Juden«, »der für die Wahrheit zeugt« (Joh 18,33–37), stellt das Gericht über jeden politischen Messianismus dar, wo immer er auftaucht, sei es in der christlichen Kirche, in einer anderen Religion oder auch in Israel.


22. Jesu Verständnis der Erwählung Israels:

Jesus hat die Erwählung Israels nicht bestritten. Aber die Zugehörigkeit zum wahren Volk Gottes entscheidet sich für ihn nicht an der genealogischen Abstammung von Abraham, auch nicht an der Beschneidung, sondern am Glauben. Er kann über einen Nicht-Juden sagen: »Solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden« (Mt 8,10).

Jesus sieht also Gottes Reich für alle an ihn Glaubenden aus allen Völkern geöffnet: »Ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; aber die Kinder des Reichs werden hinausgestoßen in die Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappen.« (Mt 8,11–12) Er sieht die Erlösten aus allen Völkern kommen (vgl. Gleichnisse und Endzeitreden Jesu).


23. Kirche und Synagoge:

Wer ist Gottes Volk?

Als in der nachpfingstlichen Gemeinde der Christusgläubigen die Zahl der Heidenchristen sehr rasch zunahm, veränderte das auch das Verständnis des Alten Testaments in der »Kirche«. Die am weitesten verbreitete Antwort auf die Frage nach dem wahren Gottesvolk lautete nun: Das ist allein die Kirche; sie hat Israel, das alte Gottesvolk, abgelöst – Israel hat diese Eigenschaft verloren.

Auch wenn man sich heute von dieser so genannten Beerbungstheorie distanziert, muss man doch zugeben: Das Neue Testament kennt ein Nebeneinander von Christen und Juden als das zweier Gottesvölker (die sich eventuell ergänzen) ebenso wenig, wie es eine Beschränkung der Heilsbotschaft von Jesus Christus auf die Heidenvölker kennt – auch der Heidenapostel Paulus verkündet das Evangelium den Juden zuerst (Röm 1, 16)!

Die Frage: Wer ist Gottes Volk? ist somit nach dem Neuen Testament so zu beantworten: Die Erwählung Israels ist nicht zurückgenommen, sie findet aber in Jesus Christus ihre Vollendung: »Auf alle Gottesverheißungen ist in ihm das Ja; darum sprechen wir auch durch ihn das Amen, Gott zum Lobe.« (2.Kor 1,20) Das heißt, Jesus Christus ist für diese Vollendung des erwählenden Handelns Gottes unentbehrlich; er deutet, entgrenzt, erweitert die Erwählung (ganz im Sinn des göttlichen Auftrags an Abraham für alle Völker) auf alle Menschen, führt Juden und Heiden zusammen und macht aus ihnen ein neues Volk der Erwählung (Eph 2,14–18).


24. Jüdische Ablehnung Jesu und der Christen:

In allen vier Evangelien (nicht nur im Johannesevangelium) finden sich viele Äußerungen der Ablehnung Jesu durch Menschen aus seinem Volk. Etwa vierzigmal taucht dies Motiv im Markusevangelium auf; viel zu häufig, um als nachträgliche Redaktion der Urgemeinde abgetan und ausgeschieden werden zu können. Diese Ablehnung steigerte sich bis zu dem Plan, Jesus zu töten (Mk 3,6 u. ö.). Seine Verurteilung als Gotteslästerer durch den Hohen Rat steht nicht isoliert da, sondern stellt den End- und Höhepunkt des Unvermögens dar, ihn zu verstehen.

Noch vor der Entstehung eines christlichen Antijudaismus finden wir im Neuen Testament, besonders in der Apostelgeschichte, deutliche Spuren eines jüdischen »Anti-Christianismus«. Der Vorwurf, das Gesetz zu vernachlässigen und den Tempel zu gefährden, richtete sich gegen Stephanus und führte zu seiner Hinrichtung. Den Aposteln wurde wiederholt Predigt und Heilen im Namen Jesu verboten.


25. Zukunftshoffnung:

Jüdische Heilserwartung ist »irdisch« geprägt (vergleiche Messiasvorstellungen). Sie zielt auf irdische Gerechtigkeit und Frieden (Schalom).

Christliche Zukunftshoffnung greift weit über solche Vorstellungen hinaus. Die Vollendung des Reiches Gottes wird von Gott in einer neuen Welt geschaffen. Darum richtet sich unsere Zukunftserwartung auf »einen neuen Himmel und eine neue Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnt« (2.Petr 3,16) und auf die Auferstehung der Toten. Im Mittelpunkt dieser Enderwartung steht für uns die Wiederkunft Christi, die Gottesgemeinschaft und Gottesschau: »Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.« (Joh 17, 3)

Wegen dieser tief greifenden Unterschiede täuschen sich diejenigen, die behaupten, Juden und Christen hegten eine gemeinsame Zukunftserwartung.


26. »Die Wurzeln unseres christlichen Glaubens«:

Jesus Christus ist Wurzel, Inhalt und Maßstab des christlichen Glaubens, der »Anfänger und Vollender des Glaubens« (Hebr 12,2). Wir lernen deshalb unseren Glauben in erster Linie von ihm her zu verstehen.

Wo heute so sehr die Bedeutung des Judentums als Ursprung und Wurzel des christlichen Glaubens hervorgehoben wird, scheint die Auffassung vorzuliegen, dass in der Wurzel alles Entscheidende schon vorgegeben sei, Jesus also nichts wesentlich Neues gebracht haben könne. Wir teilen diese Auffassung nicht. Die Glaubensgeschichte bringt Fortgang und Entfaltung.

Jesus wusste sich als Verkünder und Bringer des Neuen, mit dem das »Alte« überholt ist (Mk 2, 18–22). Er griff die Verheißung des Propheten Jeremia vom »Neuen Bund« (Jer 33) auf bei der Einsetzung des Abendmahls. Er half den Menschen durch den Glauben zu der neuen Geburt (Joh 3), zum »neuen Sein« in ihm (2.Kor 5,17). Deshalb ist es sachgemäß, dass das Evangelium von ihm im Neuen Testament zusammengefasst und das vorhergehende Gotteszeugnis als Altes Testament bezeichnet wird. Das neue Wort Gottes in Christus ist das entscheidende und endgültige.


27. Jesus führt über das Judentum seiner Zeit hinaus:

Beim Wirken Jesu handelte es sich nicht nur um einen innerjüdischen Dialog. Vielmehr war seine Kritik so radikal, dass sie nicht mehr im jüdischen Glauben integriert werden konnte und deshalb systemsprengend wirkte. Seine Vollmacht, die sich ohne die Legitimation eines Amtes auf Gott unmittelbar berief, war so gewaltig, dass es ihm gegenüber nur Anerkennung oder Verwerfung gab: Glaube oder Unglaube, Nachfolge oder Ärgernis (Mt 11,6), Huldigung oder Vorwurf der Gotteslästerung (Mk 2,7). An ihm schieden sich die Geister (Mt 10, 34–37). Er wurde für Israel entweder zum Eckstein oder zum Stein des Anstoßes (Mk 12,10). Seine Jünger erkannten in ihm den Gottgesandten und glaubten an ihn.

Der Weg des Christentums vom Judentum weg hat seinen Grund in Jesus selbst. Seinetwegen ging die christliche Kirche einen neuen Weg, »den Weg des Herrn.« (Mk 1, 27; Apg 17, 19; 18, 25) Die Entstehung des christlichen Glaubens als eigenständiger »Religion« war also kein Missverständnis, sondern notwendig und empfängt ihre Berechtigung von Jesus selbst.


28. Bekenntnis zu Jesus Christus:

Die christliche Predigt war von Anfang an »Evangelium von Jesus Christus« (Mk 1,1 u. ö.); die Botschaft von Kreuz und Auferstehung ihr Hauptinhalt (Pfingstpredigt des Petrus, Apg 2,22–36). Die Christen wurden ursprünglich auch getauft »auf den Namen Jesu Christi« und sie erhielten ganz folgerichtig den Namen »christianoi« (die Christusanhänger, Apg 11, 26). Im Mittelpunkt ihres Bekenntnisses stand folglich (wie aus vielen Bekenntnisformulierungen des Neuen Testamentes hervorgeht) »Jesus Christus, der Herr«. Er wurde als der Sohn des Vaters bezeugt, durch den wir Zugang zu Gott haben (1.Joh 5, 1+4 u. ö.). In seinem Angesicht erkennen wir Gott (Joh 14, 9; 2.Kor 4,6). Er ist zur Rechten Gottes erhöht und wird mit Gott zusammen angebetet und geehrt: »Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.« (Phil 2, 9–11)


29. Zusammenfassung: Jesus Christus, das Heil »der Völker« oder aller Menschen?

Eine sachgemäße Bestimmung des Verhältnisses von Judentum und Christentum ist nur möglich von Jesus Christus her. Er ist Heil und Krisis für alle Menschen, also auch für die Juden. »Der von diesem Evangelium ausgerufene und die Verkündigung der Apostel autorisierende Christus Jesus ist und bleibt der eine und einzige Erretter, Herr und Richter aller Heiden und Juden. Ohne ihn zu bekennen, gibt es auch für Israel kein Heil vor Gott« (P. Stuhlmacher: NTD Römer, S. 157/158).

Leider wird diese zentrale Stellung Christi im gegenwärtigen christlichen Gespräch mit dem Judentum und über das Judentum weithin übersehen, zumindest nicht genügend berücksichtigt. Man nähert sich einander gewissermaßen auf seine Kosten. Das führt dann dazu, dass die Identität des christlichen Glaubens nicht mehr deutlich gemacht oder aufrechterhalten werden kann. Ein Christentum ohne Jesus Christus verdient diesen Namen nicht.

Was kann nun auf diesem Hintergrund ein »Neuanfang« zwischen Christen und Juden bedeuten?

• Sicherlich, dass wir den Juden mit Achtung und Respekt begegnen, ihre Religion ernst nehmen und so gut wir können, kennen lernen;

• Dass wir die bittere Wahrheit von der christlichen Mitschuld an dem Unrecht und Leid, das Juden zugefügt wurde, nicht verkleinern;

• Dass wir alles Menschen- und Christenmögliche tun, damit sich das grauenhafte Unrecht nicht wiederholt und fortsetzt;

• Dass wir mit Juden in ernsthafte Gespräche eintreten über unseren und ihren Glauben.

Wenn wir jedoch in solchem Gespräch Christus verschweigen oder auch nur verdunkeln wollten, dann würden wir den Juden das Herzstück des christlichen Glaubens schuldig bleiben. Wir würden »Christus vor den Menschen verleugnen« (Mt 10,33). Juden können dies nicht von uns verlangen. Jedenfalls Rabbiner Homolka, München, will es auch nicht. Er hält den Christen sogar vor: »In einem kritischen Dialog müssten auch die Kirchen deutlicher ihren Standpunkt hervorheben. Viele kirchliche Vertreter knicken vor dem Judentum ein, vermengen die beiden Religionen, statt die wirklichen Differenzen deutlich herauszuarbeiten.« Gerade diese Differenzen haben wir in unseren Thesen versucht zu benennen. Zu diesen Differenzen gehört wesentlich und vor allem anderen das Zeugnis von Jesus Christus als dem Herrn und Heiland der ganzen Welt.

Solange wir nicht aufhören wollen, Christen zu sein, können wir auch Israel gegenüber nicht verschweigen: »Es ist in keinem andern das Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden« (Apg 4,12) – als allein der Name Jesus.


Die Allegorie vom Ölbaum (Röm 11,17–24):

Paulus hofft auf die endzeitliche Rettung Israels. Diese wird aber nicht an Christus vorbei geschehen. Diese Überzeugung drückt er in der Allegorie vom Ölbaum aus:

»Wenn aber nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden und du, der du ein wilder Ölzweig warst, in den Ölbaum eingepfropft worden bist und teilbekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich. Nun sprichst du: Die Zweige sind ausgebrochen worden, damit ich eingepfropft würde. Ganz recht! Sie wurden ausgebrochen um ihres Unglaubens willen; du aber stehst fest durch den Glauben. Sei nicht stolz, sondern fürchte dich! Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont, wird er dich doch wohl auch nicht verschonen. Darum sieh die Güte und den Ernst Gottes: den Ernst gegenüber denen, die gefallen sind, die Güte Gottes aber dir gegenüber, sofern du bei seiner Güte bleibst; sonst wirst du auch ausgehauen werden. Jene aber, sofern sie nicht im Unglauben bleiben, werden sie wieder eingepfropft werden, denn Gott kann sie wieder einpfropfen. Denn wenn du aus dem Ölbaum, der von Natur wild war, abgehauen und wider die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, wie viel mehr werden die natürlichen Zweige wieder eingepfropft werden in ihren eigenen Ölbaum.«


Diese Allegorie ist so zu deuten:

Der Ölbaum – das wahre Volk Gottes

Die Wurzel – Gottes Erwählung, Berufung, Führung, Gottes Kraft und Werk

Die Zweige – Die Menschen des Volkes Gottes aus Juden und Heiden

Die ausgehauenen Zweige – Die nicht an Jesus glaubenden Juden

Die eingepflanzten Zweige – die Heidenchristen, die an Christus gläubig geworden sind

Aus dieser Allegorie wird heute hauptsächlich ein Satz zitiert: »... so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich.« (V. 18) Er richtet sich als Mahnung an die Heidenchristen, Israel nicht gering zu schätzen und sich selbst nicht zu rühmen. Gott will kein Rühmen des Menschen, weder des jüdischen, noch des heidnischen. Deshalb werden die Heiden daran erinnert, was es heißt: aus Gnaden seid ihr eingepflanzt worden in den guten Ölbaum, unverdienterweise, eigentlich ganz »unnatürlich«. Oder positiv gesagt: »Durch den Glauben« seid ihr eingepflanzt; so wie die anderen »ausgehauen werden durch den Unglauben« (V. 19.20). Darum ist für die Heidenchristen nicht Hochmut, sondern Gottesfurcht angezeigt. Sie sollen sich das Schicksal der ausgehauenen Zweige zur Warnung dienen lassen.

Die Deutung, dass die Wurzel (V. 18) das Judentum sei, das Christentum die darauf wachsenden Zweige, lässt unbeachtet, dass Paulus mit der Rede von den ausgebrochenen Zweigen einsetzt (V. 17); er meint mit ihnen offenkundig die Juden, die nicht an Jesus glauben (Otto Michel, Römerbrief, S. 245). Von Unglauben, Nichtverstehen, Verstockung sprach der Apostel vorher schon mehrfach und wird nachher erneut davon sprechen.

Damit ist es ausgeschlossen, dass die Wurzel identisch ist mit dem vorfindlichen Judentum nach Christus. Was über dieses »real existierende« Judentum zu sagen ist, hat der Apostel in Kapitel 11, 5–10 ausgeführt. Leider (oder bezeichnenderweise?) werden diese Verse in der jetzigen Debatte überhaupt nicht ausgelegt.

Mit der Wurzel kann nur das gemeint sein, was Gott an Abraham und Abrahams Nachkommen getan hat, seine Erwählung, Berufung, sein Bund, seine Verheißung, das, was Paulus zum Beispiel in Kap. 9,4ff aufzählt. Kinder Abrahams sind nur diejenigen, die glauben, wie Abraham der Berufung und Verheißung Gottes geglaubt hat.

Das wahre Gottesvolk ist vom konkreten Judentum (und auch von der konkreten Kirche) klar zu unterscheiden (vgl. dazu auch die prophetische und deuteronomistische Kritik an Israel im Namen Gottes!). Die Grundlage, die uns trägt, das Urbild, nach dem die Kirche Jesu Christi gestaltet ist, ist dies Israel der Verheißung Gottes. In dieses werden die Heiden eingepropft (Heidenchristen), zu diesem gehören auch die nicht ausgebrochenen Zweige (gläubig gewordene Juden, Judenchristen). Beide Gruppen zusammen bilden jetzt als Zweige dieses Ölbaums die Gemeinde Christi aus Juden und Heiden.


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Ins Netz gesetzt am 30.11.2006; letzte Änderung: am 29.09.2023

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